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14.11.19
11:25 Uhr
B 90/Grüne

Bernd Voß zu den Demonstrationen von Bäuer*innen

Presseinformation

Es gilt das gesprochene Wort! Landtagsfraktion Schleswig-Holstein TOP 22 – Demonstration von Bäuerinnen und Bauern Pressesprecherin Dazu sagt der landwirtschaftspolitische Sprecher der Claudia Jacob Landtagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, Landeshaus Düsternbrooker Weg 70 Bernd Voß: 24105 Kiel
Zentrale: 0431 / 988 – 1500 Durchwahl: 0431 / 988 - 1503 Mobil: 0172 / 541 83 53
presse@gruene.ltsh.de www.sh-gruene-fraktion.de
Nr. 394.19 / 14.11.2019


Bäuer*innenproteste fallen nicht vom Himmel – Betriebe brauchen Perspektiven Ja, es macht mich persönlich betroffen, wenn fast im Wochenrhythmus im näheren und weiteren Umfeld scheinbar gut laufende Betriebe plötzlich aufgeben. Dahinter stehen meist mehrere Generationen der Familien sowie Wissen und Kompetenz zum Beruf an dem Standort. Sie sind damit auch weg.
Häufig stellen sich bei der Betriebsaufgabe viele Fragen zum verbliebenen Vermögen und den sozialen Fragen der Zukunft. Ein landwirtschaftlicher Betrieb geht nicht in Stand-by. Allein bei den Milchviehhalter*innen sind in den letzten zehn Jahren bundes- weit von 100.000 noch 60.000 nachgeblieben.
Wir verstehen den Frust der Menschen auf den Betrieben, die in wirtschaftlich schwieri- ger Lage sind und das Gefühl haben, sie können von ihrer harten Arbeit kaum noch le- ben und werden dabei auch noch von allen Seiten gescholten.
Wir stehen auf der Seite der Bäuer*innen, die sich gegen pauschale oder sogar persön- liche Anfeindungen zur Wehr setzen. Wir wenden uns entschieden gegen „Bauern- bashing“ und eine Kultur der Diffamierung. Wir brauchen die bäuerliche Landwirtschaft für regionale, gesunde Lebensmittel und zum Erhalt unserer vielfältigen Kulturland- schaft. Wir brauchen für all die Herausforderungen unsere gut ausgebildeten Bäu- er*innen mit ihrem Erfahrungswissen, damit sie ihre Betriebe zukunftsfähig ausrichten können: das heißt tiergerecht, klimafreundlich, umweltgerecht, widerstandsfähig im Kli- mawandel und gegenüber den Herausforderungen sich wandelnder Märkte, eingebun- den in regionale Wirtschaftsketten. Viele Bäuer*innen braucht das Land.
Es ist der agrarpolitische Rahmen, der dazu geführt hat, dass derzeit ohne die noch verbliebenen staatlichen Flächenzahlungen derzeit kaum noch ein Betrieb überleben Seite 1 von 4 könnte. Es sind agrar- und handelspolitische Entscheidungen, die das „Wachsen oder Weichen“ befeuern. Die Ausrichtung der Landwirtschaft auf Kostenführerschaft und den Weltmarkt ist gescheitert. Verantwortlich dafür ist eine Bundesregierung, meistens von der CDU/CSU geführt, und ihre Landwirtschaftsminister*innen, die diese Politik durch- gesetzt haben.
Zu dieser Politik gehören auch zum Teil sehr komplexe Verwaltungs- und Kontrollvor- schriften, um das System zu händeln. Diese Politik wurde auch vom Bauernverband, zusammen mit weiteren Lobbyorganisationen der vor- und nachgelagerten Agrarindust- rie, vorangetrieben. Sie sind für echte Reformen stets der größte Hemmschuh.
Die Bundesregierungen haben über Jahre und Jahrzehnte eine zu zögerliche, in Teilen unwirksame Rahmensetzung in Bezug auf Umwelt- und Tierschutzstandards sowie auf Marktorganisation betrieben und damit zu lange auch falsche Anreize gesetzt. Wir ha- ben eine EU-Agrarpolitik, die mit ihrem System 70-80 Prozent der Agrargelder ineffi- zient verteilt. Die Vorschläge zur Verbesserung dieses Systems sind so alt wie das Sys- tem der ungerechten Verteilung selbst.
Wir können nicht mit immer mehr Geld gegen eine falsche EU-Agrarpolitik ansubventio- nieren, selbst wenn wir das wollten. Daher müssen die noch zur Verfügung stehenden EU-Agrargelder vom Kopf auf die Füße gestellt, die richtigen Anreize gesetzt werden. Da hat die Bundesregierung allerdings noch einen erheblichen Nachhilfebedarf.
Die einzelne Bäuer*in sagt daher: Was kann ich dafür, dass die Politik das Nitratprob- lem nicht schon vor zwanzig Jahren ernsthaft angegangen ist? Dass die Politik Anreize zur Konzentration der Intensivtierhaltung in bestimmten Regionen, zur Zunahme des Maisanbaus, zu Grünlandumbruch und immer engere Fruchtfolgen im Ackerbau gesetzt hat? Dass Pflanzenschutzmittel zugelassen und Jahrzehnte lang eingesetzt werden, bis jemand feststellt, dass sie gesundheitsgefährdend und extrem schädlich für die Bio- diversität sind?
Die Bäuer*innen, die voran gehen, kommen bei fehlenden Leitplanken in einen Wett- bewerbsnachteil.
Was sind die Vorhaben der Bundesregierung, die bei den Demonstrationen genannt, beziehungsweise abgelehnt werden:
1. Düngeverordnung Professor Taube spricht von legalisierter Gewässerverschmutzung. Dass wirksame Re- gelungen seit Jahren verschleppt werden, liegt vor allem auch an der Blockadehaltung des Bauernverbandes. Professor Taube - seit Jahrzehnten nationaler und europäischer Experte für Pflanzenbau und Nitratbelastung - hat die Verhandlungen Umwelt und Agrar zum Jamaika-Koalitionsvertrag für die CDU mit geführt und inzwischen immer mehr grüne agrarpolitische Positionen übernommen. Jetzt drohen als Konsequenz dieser Blockadehaltung Strafzahlungen von über 800.000 Euro täglich.
Die Landwirte haben zurzeit keine Rechtssicherheit. Für die Betriebe bedeutet eine kur- ze Anpassungszeit zum Teil hohe Anpassungskosten. Ein rechtzeitiges Umsteuern hät- te längere Übergangszeiten und eine allmähliche Anpassung ermöglicht. Die EU- Nitratrichtlinie, die Deutschland immer noch nicht ausreichend umsetzt, ist von 1992.
2. Bienen – und Artenschutzprogramm Auch hier: Je mehr verschleppt wird, umso teurer wird es. Wir wissen nicht erst seit
2 gestern, dass einige Pflanzenschutzmittel zu den Haupttreibern des dramatischen Rückgangs an Tier- und Pflanzenarten in unserer Kulturlandschaft gehören. Glyphosat und besonders human- und ökotoxikologische Pestizide gehören eingeschränkt und verboten. Der Einsatz von chemischen Pflanzenschutzmitteln muss insgesamt reduziert werden.
Diejenigen, die den Handlungsbedarf leugnen und zerreden, erweisen der Landwirt- schaft einen Bärendienst und führen sie hinsichtlich pflanzenbaulicher Innovationen und gesellschaftlicher Akzeptanz immer weiter in eine Sackgasse. Der Bund hat eine Erhö- hung der GAK-Mittel für den Bienenschutz angekündigt, die durch die Länder kofinan- ziert werden müssen. Dafür haben wir Mittel im Haushalt schon vorgesehen. Zu den möglichen zu stützenden Maßnahmen gehört auch die Weidehaltung. Mehr Tiere auf der Weide heißt mehr Kuhfladen. Das schafft wieder Lebensbasis für viele Insektenar- ten. Auch das ist nicht erst seit gestern bekannt. Hinzu kommt die Bedeutung des Grün- landes als CO2-Speicher für den Klimaschutz. Das ist eine Win-Win-Situation
3. Haltungskennzeichnung freiwilliges Tierwohllabel Wir fordern eine obligatorische, staatliche Haltungskennzeichnung. Im nicht umgesetz- ten Jamaika-Koalitionsvertrag auf Bundesebene war diese grüne Forderung zentraler Punkt im agrar- und verbraucherpolitischen Teil. Geld für den hohen Finanzbedarf bei der Anpassung der Ställe war in den Verhandlungen hinterlegt.
Nichthandeln der verantwortlichen Politik hat zur Folge, dass die Monopolisten des Le- bensmitteleinzelhandels ihre Standards bei der Lebensmittelkennzeichnung setzen und demnächst auch über die notwendige Beschränkung von Pflanzenschutzmittel ent- scheiden. Das bringt Erzeuger*innen erst recht in die Abhängigkeit dieser großen Ket- ten.
4. Mercosur-Abkommen Diese Handelsströme und auch die Probleme sind nicht neu. Wir teilen die Kritik an die- sem Abkommen, allerdings sollte der Bauernverband beide Seiten der Medaille sehen, also nicht nur, wo die Marktöffnung unsere heimische Erzeugung schadet, sondern auch, wo wir mit unserer Exportstrategie und unseren Dumpingpreisen die Märkte anderswo schaden. Es fehlt ein qualifizierter Marktzugang
5. Umwidmung von zusätzlich 1,5 Prozent der Zahlungen 4,5 Euro pro ha von der ersten in die 2. Säule, das sind 4,5 Millionen, die in Schleswig- Holstein ohne weitere Co Finanzierung. Die Mittel werden im Land im Wesentlichen für gezielte Agrarumweltmaßnahmen auf den Höfen verwendet werden.
Die Reformverweigerer in einigen Verbänden und Regierungen verantworten, dass der Anpassungsdruck so hoch geworden ist und die Zeit immer knapper wird, die noch zur Verfügung stehenden öffentlichen Mittel auch wirksam dafür einzusetzen.
Was der Bundesregierung und Teilen der Bauernverbände fehlt, ist der Wille und eine starke Botschaft, dass die verschiedenen alten und neuen Anforderungen, die ökologi- schen und sozialen Standards, letztlich nur vom Markt durch einen fairen, auskömmli- chen Preis von den Betrieben getragen werden können.
Sie haben aber anscheinend nicht den Willen, das umzusetzen. Es ist unglaubwürdig, davon auszugehen, dass es anders finanziert werden kann. Der Kanon der marktwirk- samen Maßnahmen geht von einem besseren Wettbewerbsrecht über Marktbeobach-
3 tung und Maßnahmen der Marktanpassung bis hin zu wirksamen Qualitätsstandards und Haltungskennzeichnung. Hilflos vor den Märkten stehen und keine Kraft und keinen Willen haben, Leitplanken zu setzen, schafft nur Verlierer*innen und hängt ab. Das ist zutiefst Marktfeindlich.
Die anstehenden Veränderungsprozesse schaffen Unsicherheit. Sie müssen sich per- spektivisch rechnen und brauchen positive Energien. Aber: Landwirt*innen gehören nach Ärzt*innen, Polizist*innen und einigen mehr zu den beliebtesten Berufsgruppen. Trotzdem gibt es ein zunehmendes Unbehagen mit der Art der Landwirtschaft, der In- tensivierung und Industrialisierung.
Ein Ruck geht seit einigen Jahren durch das Land: Das sind nicht nur die Bauernprotes- te vom 22.10. und von heute. Das zeigen beispielsweise die jährlichen „Wir haben es satt“-Demos zur Grünen Woche in Berlin. Und wöchentlich die Bewegung „Fridays for future“. Wir habe eben eine Zivilgesellschaft, der man nicht so einfach ein x für ein u vormachen kann: Essen Umwelt, Tierwohl, Klima und immer auch die Frage „Wie geht es den Bäuer*innen?“ stehen als Fragen oben auf der öffentlichen Agenda. Wir müssen das nicht beklagen, sondern was daraus machen. Bäuer*innen stehen mitten in der Ge- sellschaft und lassen sich nicht ins Abseits drängen.
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