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27.01.21
10:20 Uhr
Landtag

Gedenken an die Opfer der NS-Herrschaft - Parlamentspräsident Schlie: Vergangenheit lehrt, dass ethisches Handeln unser höchstes Gut ist

Nr. 8 / 27. Januar 2021


Gedenken an die Opfer der NS-Herrschaft – Parlamentspräsident Schlie: Vergangenheit lehrt, dass ethisches Handeln unser höchstes Gut ist

Am heutigen Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus hat Landtagspräsident Klaus Schlie zu Beginn der Plenarsitzung in einer Rede der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Darin erinnerte er auch an den Untergang der Schiffe „Cap Arcona“ und „Thielbek“ im Mai 1945 – und betonte die Verantwortung jedes Einzelnen für den Erhalt der Demokratie, für den Schutz jüdischen Lebens und gegen den Hass.
Die tragischen Ereignisse in der Neustädter Bucht am 3. Mai 1945, bei denen 7.000 Menschen – die meisten von ihnen zuvor Häftlinge verschiedener Konzentrationslager – ihr Leben verloren, standen im Zentrum einer ursprünglich geplanten Gedenkstunde. Aufgrund der Corona-Pandemie musste sie ebenso wie eine begleitende Ausstellung des Museums Cap Arcona abgesagt werden.
Im Anschluss an die Schweigeminute im Landtag rief der Parlamentspräsident dazu auf, gegen Ausgrenzung, Hass, Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit Zeichen zu setzen. 76 Jahre nach der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz wolle er auch hervorheben, dass der Schutz jüdischen Lebens in Schleswig-Holstein und ganz Deutschland höchste politische und gesellschaftliche Priorität besitzen müsse. „Jüdisches Leben gehört zu uns, es ist ein integraler Teil unserer Gesellschaft“, sagte Schlie. Jüdinnen und Juden müssten sich wie alle Bürgerinnen und Bürger sicher und frei fühlen können. „Dafür wird sich dieses Parlament immer kompromisslos und mit Nachdruck einsetzen.“
Die Rede von Landtagspräsident Schlie im Wortlaut:
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
heute ist der 27. Januar, der zentrale Gedenktag für die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Die Corona-Pandemie macht es uns leider nicht möglich, diesen Tag heute so zu begehen, wie es notwendig wäre und wie es der Bedeutung dieses Tages eigentlich zukommt. Das heißt allerdings nicht, dass wir einen so wichtigen Tag ohne ein Wort des Gedenkens 2

verstreichen lassen – dafür hat dieses Datum uns Deutschen zu viel zu sagen: und zwar nicht nur über unsere Vergangenheit, sondern auch über unsere Gegenwart und Zukunft.
In diesem Jahr hätten die schrecklichen Ereignisse vom 3. Mai 1945 in der Neustädter Bucht im Zentrum des Gedenkens gestanden. An Bord des Passagierdampfers „Cap Arcona“ und des kleineren Frachtschiffes „Thielbek“ starben damals bei einem alliierten Bombenangriff mehr als 7.000 Menschen. Die meisten der Opfer waren zuvor Häftlinge verschiedener NS- Konzentrationslager gewesen. Wenige Tage vor dem Kriegsende, das die Rettung dieser gequälten Menschen gewesen wäre, mussten sie doch noch ihr Leben lassen.
Dass die Bomben und Raketen, die beide Schiffe in der Neustädter Bucht versenkten, von britischen Piloten abgeschossen wurden, ist der bis heute besonders tragische Aspekt des 3. Mai 1945. Denn die Briten glaubten, auf Schiffe der deutschen Kriegsmarine zu schießen, sie wussten nichts von den hilflosen KZ-Häftlingen an Bord. Und die deutschen Bewacher hatten diese Verwechslung gezielt miteinkalkuliert. Die Häftlinge hatte man in Todesmärschen aus Hamburg in Bewegung gesetzt, um die Lager nach vor Ankunft der Alliierten zu räumen – und in der perfiden Hoffnung, so Beweise für die unmenschlichen NS-Verbrechen zu vernichten.
Um „Vernichtung“ im wahrsten Sinne des Wortes, um die Ermordung der KZ-Häftlinge kurz vor Kriegsende, ging es auch, als die entkräfteten Überlebenden auf die beiden Schiffe gepfercht wurden. Ganz gezielt waren die Rettungsboote der beiden schwimmenden Gefängnisse sabotiert und die Rümpfe von der SS mit entflammbarem Treibstoff gefüllt worden. Die Tragödie von Neustadt, der Tod von tausenden von Menschen, war von den Nazi-Schergen geplant worden, sie tragen die Schuld an diesem Verbrechen.
Meine Damen und Herren, die erneute Aufarbeitung dieses Verbrechens und die Erinnerung daran hat sich zurzeit das Museum Cap Arcona in Neustadt/Holstein in Zusammenarbeit mit Neustädter Schulen und begleitet durch die Landesarbeitsgemeinschaft der Schleswig-Holsteinischen Gedenkstätten zur Aufgabe gemacht. Es ist außerordentlich bedauerlich, dass eine für dieses Jahr geplante Ausstellung und eine Vorstellung des Projekts nicht stattfinden kann. Ich möchte aber an dieser Stelle ausdrücklich betonen, dass diese Präsentation nachgeholt wird, um so eine möglichst breite Öffentlichkeit zu erreichen.
Die Erinnerung an das Verbrechen in der Neustädter Bucht steht für ein neues Kapitel in der Gedenkstätten- und Erinnerungsarbeit. Sie steht stellvertretend für viele andere Orte des Gedenkens an die Opfer der NS-Gewaltherrschaft, die buchstäblich vor unserer Haustür bei uns in Schleswig-Holstein zu finden sind.
Der Holocaust, der massenhafte und industrialisierte Mord an Juden, Sinti und Roma, an sowjetischen Kriegsgefangenen, Homosexuellen, an Menschen mit Behinderung und an politischen Gegnern des Nationalsozialismus fand zu einem großen Teil in den Konzentrationslagern statt, die außerhalb, aber auch innerhalb Deutschlands standen.
Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Erniedrigung, Misshandlung und Ermordung von Menschen nicht auch in vielen kleinen Außenlagern der Nazis stattfanden und damit 3

buchstäblich für jede und jeden erkennbar waren. Das ist eine Erkenntnis, die dazu geführt hat, dass wir heute wissen, dass der Satz von den Verbrechen, von denen so viele „nichts gewusst“ hätten, unzutreffend ist. Diese Erkenntnis verpflichtet uns zugleich dazu, niemals wegzusehen, wenn sich Diskriminierung und Hass, Rassismus und Antisemitismus auch heute wieder in ihren unsäglichen Anfängen zeigen -- wehren wir Demokratinnen und Demokraten gemeinsam den Anfängen!
„Die Erinnerung“, so hat es Bundespräsident Roman Herzog einmal gesagt, „darf nicht enden; sie muss auch zukünftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen.“ Diese Wachsamkeit ist heute wieder nötiger denn je. Der Wunsch einer wachsenden Zahl von Menschen, hier in Deutschland, aber auch anderswo in Europa und der Welt, komplexe Herausforderungen auf allzu simple Formeln und Parolen zu reduzieren, wird leider größer und hat auch unsere Parlamente erreicht.
Das alles ist zutiefst beunruhigend und diese Beobachtungen mahnen uns Demokratinnen und Demokraten, die Grundlagen nicht zu vergessen, auf denen unsere freiheitlich-demokratische Gesellschaft vor 75 Jahren aufbaute und die uns überhaupt erst einen Neuanfang ermöglichten.
In Neustadt und in ganz Schleswig-Holstein haben es sich engagierte Bürgerinnen und Bürger eingedenk dieser niemals endenden Verantwortung der Deutschen für die NS-Verbrechen zur Aufgabe gemacht, auch zukünftige Generationen mit diesem wichtigen und für unsere Demokratie unverzichtbaren Thema zu konfrontieren.
Rund 75 Jahre nach dem Ende der NS-Schreckensherrschaft ist das ein notwendiges, ein gutes Zeichen: Wir Schleswig-Holsteinerinnen und Schleswig-Holsteiner stellen uns unserer historischen Verantwortung, wir setzen uns mit unserer Geschichte auseinander und wir ziehen daraus immer wieder wichtige Schlüsse.
Schleswig-Holstein verdankt seinen demokratischen Neuanfang dem Vertrauen derjenigen Staaten, die 1945 den Nationalsozialismus unter blutigen Opfern besiegten und uns Deutschen damit die Freiheit schenkten. Wenn wir heute, 75 Jahre später, alles dafür tun, an die Opfer des Nationalsozialismus zu erinnern, sie nicht zu vergessen und eine Wiederholung solcher Verbrechen schon im Ansatz zu verhindern, dann tun wir das auch im Bewusstsein der Dankbarkeit gegenüber jenen Menschen, die damals angesichts ungeheuerlicher Verbrechen das Vertrauen in ein demokratisches Deutschland nicht verloren hatten.
Meine Damen und Herren, das diesjährige Gedenken an die Opfer der NS-Gewaltherrschaft findet coronabedingt in anderer Form, leiser als sonst, statt. Aber es findet statt – das ist die wichtige Botschaft. Die digitale Vernetzung ermöglicht es uns heute, auch unter den besonderen Bedingungen und Belastungen, über das, was damals an Verbrechen geschah, zu informieren, uns auszutauschen und neue Formen des Gedenkens und Erinnerns zu finden.
Ich habe zu Beginn meiner Rede gesagt, dass der Gedenktag des 27. Januar uns nicht nur viel über die Vergangenheit, sondern auch über die Gegenwart und Zukunft zu sagen hat. Haben wir gelernt – und was haben wir gelernt? 4

Die derzeitige Situation ist nicht zu vergleichen mit den Jahren des Weltkrieges und mit den unaussprechlichen Menschheitsverbrechen, die damals im deutschen Namen und durch Deutsche verübt wurden. Aber die derzeitige Pandemie ist zweifellos die größte Herausforderung unserer Gesellschaft seit Ende des Krieges.
In die Bewältigung dieser Krise, die ja neben medizinischen auch wirtschaftliche und vor allem soziale und ethische Herausforderungen an uns stellt, müssen Lehren der Vergangenheit einfließen. Und das ist der Fall. Ich habe sehr positiv zur Kenntnis genommen, dass von Beginn der Corona-Krise an, der Schutz unserer gesundheitlich schwächsten Mitbürgerinnen und Mitbürger stets das entscheidende Kriterium für die Vorgehensweise der Bundes- und Landesregierungen war. Der ethische Maßstab ist ein integraler Bestandteil unseres staatlichen Handelns und das ist eine der wohl wichtigsten Lehren aus unserer Vergangenheit.
Meine Damen und Herren, wir, die Abgeordneten des Schleswig-Holsteinischen Landtages, gedenken heute gemeinsam mit allen Schleswig-Holsteinerinnen und Schleswig-Holsteinern der Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.
Die Arbeit, die bereits bisher in unserem Land für die Erinnerung an diesen Tag geleistet wurde, ist beeindruckend und der Wille, dieses Gedenken lebendig und mit Blick auf die kommenden Generationen weiterzutragen, ist verdienstvoll und aller Anerkennung wert.
Ich wünsche allen, die sich in diese Arbeit einbringen, in Neustadt und anderswo in unserem Land, Erfolg, Ausdauer und gutes Gelingen – Sie bauen aktiv und an entscheidender Stelle mit an unserem Haus der Demokratie. Sie weisen uns immer wieder auf das unverrückbare Fundament dieses Hauses hin: die Verantwortung, unsere Demokratie aktiv zu gestalten und aktiv zu verteidigen! Ich danke Ihnen allen sehr herzlich für diesen Einsatz.
Meine Damen und Herren, gemeinsam wollen wir zu Beginn dieser Tagung innehalten und uns an die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft erinnern. Dazu bitte ich Sie, sich von Ihren Plätzen zu erheben.
Wir gedenken der Millionen Menschen, die von den Nationalsozialisten entrechtet, verfolgt, gequält und ermordet wurden.
Wir erinnern uns an all jene, die der totalitären Staatsgewalt zum Opfer fielen, weil sie Juden waren oder Sinti und Roma. Oder weil sie sich aus religiösen oder politischen Beweggründen oder aus Mitmenschlichkeit widersetzen.
Wir erinnern uns an die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, an die von Deutschen dem Hungertod preisgegebenen Kriegsgefangenen, an die Opfer staatlicher Euthanasie, an Homosexuelle, Deserteure und Angehörige anderer Minderheiten. An Frauen, Männer und Kinder aller Völker!
Meine Damen und Herren, es ist an uns, in Worten und Taten Zeichen zu setzen gegen Ausgrenzung und Hass, gegen Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. 5

76 Jahre nach der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz ist es mir ein besonderes Bedürfnis zu betonen, dass vor allem der Schutz jüdischen Lebens in Schleswig-Holstein und in ganz Deutschland höchste politische und gesellschaftliche Priorität besitzen muss.
Jüdisches Leben gehört zu uns, es ist ein integraler Teil unserer Gesellschaft und Jüdinnen und Juden müssen sich – wie jede Bürgerin und jeder Bürger – in unserer demokratischen Gesellschaft sicher und frei fühlen können. Dafür wird sich dieses Parlament immer kompromisslos und mit Nachdruck einsetzen.
Ich danke Ihnen!