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25.08.21
10:16 Uhr
SSW

Lars Harms: Kriegsflüchtlinge müssen eine Bleibeperspektive bekommen

Presseinformation Kiel, den 25.08.2021
Es gilt das gesprochene Wort


Lars Harms
TOP 18 Sofortiger Abschiebestopp nach Afghanistan jetzt!
Drs. 19/3176


„Es geht jetzt darum, ohne Wenn und Aber Menschenleben zu retten. Jetzt ist
an erster Stelle Humanität gefordert und nichts anderes!“

Viele von uns sind momentan wahrscheinlich erschlagen. Erschlagen von der Wucht, mit der uns
die Ereignisse der letzten Wochen und Monate in Afghanistan getroffen haben. Immer wieder
lesen wir neue Lageeinschätzungen, hören neue Nachrichten, bangen und hoffen und sehen dabei
doch einer Katastrophe zu.


Am 04.08., als wir unseren Antrag zum sofortigen Abschiebestopp nach Afghanistan stellten, hat
der Bundesinnenminister sich noch öffentlich dazu bekannt, Straftäter nach Afghanistan
abschieben zu wollen, die freiwillige Ausreise zu verstärken und gar „nach Corona“ die
Abschiebungen deutlich zu erhöhen. Ich war und bin immer noch fassungslos. „Wo endet
Weltfremdheit, wo beginnt Skrupellosigkeit?“, fragte ein Kommentator in der Süddeutschen
Zeitung und ich weiß nicht, ob Horst Seehofer das selbst beantworten kann. Ich fragte mich
währenddessen, wo unterlassene Hilfeleistung aufhört und wie viel Schuld einzelne Menschen
gewillt sind, auf sich zu laden. Dann folgte am 11.08. irgendwann zwischen 13:11 Uhr und 13:31 Uhr,
so hat es der SPIEGEL rekonstruiert, der Sinneswandel. Abschiebungen aus Deutschland nach



( ( 2

Afghanistan sind bis auf Weiteres ausgesetzt. Rückblickend kommt mir das fast wie ein Tropfen
auf dem heißen Stein vor.


Ich brauche Ihnen die Nachrichtenlage nicht zu referieren. Während des US-Truppenabzugs haben
die Taliban innerhalb weniger Wochen Region nach Region erobert und Provinzhauptstädte
eingenommen. Am 1. Mai begann der Truppenabzug. Erst erkämpften sich die Taliban die
ländlichen Gebiete, strategische Straßen, dann Sarandsch als erste Provinz-Hauptstadt. Im August
folgte Kandahar und kurz darauf Masar-i-Scharif, als ehemaliger Bundeswehr-Standort. In Kabul
zogen die Taliban kampflos ein, während der Präsident schon geflohen war. Und was ihm geglückt
ist, dass versuchen zur Stunde noch tausende Afghaninnen und Afghanen an Flughafen von Kabul.
Wir haben Menschen gesehen, die sich verzweifelt an Flugzeugen festklammern und in den Tod
stürzen. Der Flughafen ist kein sicherer Ort. Es fallen Schüsse und es gibt Terrordrohungen.
Mindestens sieben Menschen sind bei der Massenpanik vor den Toren des Flughafens gestorben.
Währenddessen hören wir vom militärischen Widerstand im Pandschir-Tal, rund 150 Kilometer
nordöstlich von Kabul. Hier haben sich Menschen, die in Tradition derer stehen, die schon in den
90er Jahren gegen die Taliban kämpften mit Angehörigen der afghanischen Armee
zusammengeschlossen. Sie kämpfen gegen die Gewalt der Taliban.


Aber in unserer Betrachtung geht es gerade auch um die Rechte der Frauen, die nun Jahrzehnte
ihre gesellschaftliche Stellung verbessert haben und fortan nicht nur um die eigene Entfaltung,
sondern auch wieder ganz realistisch um ihr Leben fürchten müssen. Und dann wird plötzlich doch
wieder die Verschiebung des Abzugs diskutiert. Großbritannien drängt auf eine Verlängerung der
Abzugsfrist, Biden zeigt sich offen für diese Option und von Taliban-Führern heißt es, damit wäre
eine rote Linie überschritten. Die möglichen Folgen dessen haben sie bereits in Aussicht gestellt.
Vieles könnte man an dieser Stelle diskutieren. Zwanzig Jahre nach den Terroranschlägen des
elften Septembers, nach dem Beginn des Afghanistan-Krieges, jubeln die Taliban und die
Bevölkerung verzweifelt. 3

Wir, wir als Deutsche, als Teil der EU und als Mitglied im NATO-Bündnis werden uns schmerzhaft
damit auseinander setzen müssen, ob man unsere Wertvorstellungen so einfach anderswohin
exportieren kann und ob dieser Versuch überhaupt sinnvoll ist. Und damit in engem
Zusammenhang steht dann natürlich auch die Frage, ob die jeweiligen Militäreinsätze wirklich
nötig sind.


Für uns als SSW sollen aber jetzt zwei Punkte im Vordergrund stehen:
Erstens: Wir müssen jetzt jede Kapazität nutzen, die wir haben. Ein Landesaufnahmeprogramm für
300 Frauen und Kinder aus Afghanistan, die über den Familiennachzug zu uns kommen, ist ein
sehr guter erster Schritt. Damit gehen wir unbürokratisch voran, während andere Bundesländer
zögern. Aber dabei darf es nicht bleiben. Es geht jetzt darum, ohne Wenn und Aber
Menschenleben zu retten. Und dabei darf keine gefährdete Gruppierung gegen eine andere
ausgespielt werden.
Wir haben freie Kapazitäten in unseren Landesunterkünften von, wenn ich richtig überschlagen
habe, mindestens 2000 Plätzen. Jetzt ist der Zeitpunkt, dass wir diese auch nutzen!
Zweitens: Allen aus Afghanistan stammenden Menschen muss sofort eine dauerhafte
Bleibeperspektive eröffnet werden. Diese Menschen sind Kriegsflüchtlinge und sie werden in
jedem Fall bleiben. Das gilt für die, die nun kommen, genau wie für die, die jetzt schon bei uns
sind. Daher ist es besser, ihnen alle vorhandenen Integrationsmöglichkeiten zu bieten, als an einer
unrealistischen Fiktion einer Rückführung zu irgendeinem Zeitpunkt festzuhalten.
Jetzt, meine Damen und Herren, und so verstehen wir unseren gemeinsamen Antrag, ist an erster
Stelle Humanität gefordert und nichts anderes!


Hinweis: Diese Rede kann hier ab dem folgenden Tag als Video abgerufen werden:
http://www.landtag.ltsh.de/aktuelles/mediathek/