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17.06.20
10:11 Uhr
SPD

Ralf Stegner zu TOP 32,33,34: Schluss mit den Missständen in der Fleischindustrie!

Heimo Zwischenberger Pressesprecher der SPD-Landtagsfraktion
Adresse Düsternbrooker Weg 70, 24105 Kiel Telefon 0431 988 1305 Telefax 0431 988 1308 E-Mail h.zwischenberger@spd.ltsh.de Webseite www.spd-fraktion-sh.de Es gilt das gesprochene Wort!

Hinweis: Diese Rede kann hier als Video abgerufen werden: http://www.landtag.ltsh.de/aktuelles/mediathek

LANDTAGSREDE – 17. Juni 2020
Dr. Ralf Stegner: Schluss mit den Missständen in der Fleischindustrie! TOP 32,33,34: Schluss mit Werkverträgen in der Fleischindustrie – Gute Arbeitsbedingungen durchsetzen und Prekäre Wohnsituation von Arbeitskräften in Schleswig-Holstein beenden! (Drs. 19/2188, AltA19/2253) „Coesfeld, Dissen, Birkenfeld, Bogen, Ulm – Bad Bramstedt: Alles Orte, die in der jüngeren Zeit wegen Corona- Infektionen in Schlachthöfen in die Schlagzeilen gekommen sind. Es gibt verschiedene Erklärungen, warum sich genau dort die Infektionen häufen. Im Akkord schlachten, zerlegen, verpacken, das ist körperlich knallharte Arbeit. Die niedrige Temperatur in den Kühlhäusern, lange Schichten, beengte Unter-bringung in Gemeinschaftsunterkünften. Hängen bleibt: Da stimmt etwas nicht. Der Skandal hinter dem Skandal ist dabei offensichtlich. Erst mit der Corona-Pandemie, als die Bedingungen in den deutschen Fleisch-fabriken wegen der Gefahr von Hotspots und Infektionsherden auch die Mehrheitsgesellschaft direkt betrafen, bekamen die Beschäftigten in der Fleischindustrie die öffentliche und breite Aufmerksamkeit, die ihnen schon längst zugestanden hätte. So muss die Bilanz der letzten Wochen lauten und darauf kann niemand stolz sein. Zwei Drittel der Beschäftigten bei den vier großen Fleischkonzernen sind nach Schätzungen der Gewerkschaften Werkvertragsarbeiter – ein großer Teil von ihnen kommt aus Rumänien. Die Tatorte sind haupt-sächlich in NRW, Niedersachsen und bei uns in Schleswig-Holstein. Werkverträge sollen eigentlich Flexibilität bei spezialisierten Tätigkeiten bieten. In der Realität werden sie genutzt, um systematisch Löhne zu drücken und Verantwortung so zu verschachteln, dass kaum noch durchgestiegen werden kann, für wen der Arbeitnehmer im Betrieb gerade tätig ist. Das ist im Übrigen bislang ein Wundermittel gegen wirksame Kontrollen. So gedeiht Lohnsklaverei im 21. Jahrhundert! Dank der Recherche des NDR hatten wir alle in der vergangenen Woche Gelegenheit, auch Einblick in die Realität der Vertragstricksereien zu bekommen: • höchst zweifelhafte Verschwiegenheitsklauseln in Arbeitsverträgen sollen Arbeitnehmer davon abhalten, Beratung zu suchen und damit Zustände in den Betrieben verschleiern. • Knebelverträge schreiben bei Kündigung die Rückzahlung des Lohns für eine Ausbildungszeit fest, die es in der Realität der Betriebe oftmals gar nicht gibt. Damit stellt man sicher, dass der Arbeitnehmer auch bei unwürdigen Bedingungen nicht in Versuchung kommt zu gehen. • Der Mindestlohn wird systematisch unterlaufen, indem massenhaft unbezahlte Überstunden weit jenseits des Arbeitszeitgesetzes Normalität sind. Wir kennen diese Zustände, meine Partei erst recht. Aber eigentlich sollte man denken, sie wären in Deutschland seit 100 Jahren Geschichte und nicht Realität in 2020. Das ist ein Skandal, der beendet werden muss! Fragt man die Fleischlobbyisten, ist vieles von dieser Darstellung über-trieben. Und der Rest eben alternativlos. Denn nur solange es diese Bedingungen gäbe, könne die Produktion noch in Deutschland statt-finden. Eine Vertreterin der Fleischindustrie bestritt im Deutschlandfunk gar nicht die Zustände, behauptete aber, dass jede Änderung dazu führe, dass deutsche Unternehmen nicht mehr konkurrenzfähig seien. So argumentierten früher auch Kapitalisten gegen die Abschaffung der Kinderarbeit.



1 Und im Übrigen sei es auch eine Frage des Tierwohls, Deutschland konkurrenzfähig zu halten, Schlachtungen im eigenen Land vermeiden Tiertransporte. So ist das nämlich: Nicht nur um die Zweibeiner, auch um die Vierbeiner ist die Fleischindustrie ehrlich besorgt. Überall sonst in der EU reibt man sich bei solchen Aussagen verwundert die Augen. Denn Deutschland ist nicht von Dumping bedroht – Deutschland ist das Dumping-Paradies bzw. die Dumping-Hölle, wenn man es aus Arbeitnehmersicht sieht! Dumping ist das System der deutschen Werkverträge, das die Nachbarländer unter Druck setzt. Und das hat Folgen. Beim Schweinefleisch ist die Zahl der Schlachtungen in Deutschland in den letzten 20 Jahren um die Hälfte gestiegen. Tiertransporte, vor denen die Fleischindustrie warnt, sind Realität. Aber nicht aus Deutschland, sondern nach Deutschland. Halb Europa bringt seine Rinder und Schweine nach Deutschland – den miesen Arbeitsbedingungen sei Dank. Und im Umkehrschluss exportieren wir billiges Fleisch, das besser zahlende Betriebe in den europäischen Nachbarländern ruiniert. Das ist die reale Folge des Dumpings! Qualitätsfördernd ist das übrigens auch nicht. Und darum ist es genau richtig, dass Hubertus Heil in Berlin ein Arbeitsschutzprogramm für die Fleischindustrie auf den Weg bringt. Es mag vielen nicht passen, aber mit der Billig-Mentalität muss Schluss sein. Dafür kommt ab 2021 ein Ende der Werkverträge im Kernbereich von Schlachtung und Fleischverarbeitung. Bußgelder für Arbeitszeitverstöße werden verdoppelt, damit sich Betrug nicht mehr lohnt. Und Arbeitszeit muss endlich digital erfasst werden, damit Acht-Stunden-Schichten künftig von 8 bis 16 Uhr und nicht mehr länger von 7 bis 20 Uhr dauern. Man kann kritisieren, dass alles das schon viel früher hätte passieren müssen. Man sollte dann aber sehr genau prüfen, ob die eigenen Leute in Berlin zu denjenigen gehören, die bis zum Frühjahr die Selbstverpflichtungen der Fleischindustrie für vollkommen ausreichend hielten. Selbstverpflichtungen übrigens, nach denen es viele der jetzigen Zustände gar nicht mehr geben dürfte, von ehrbaren Kaufleuten ist hier keine Rede – auch nicht von schwarzen Schafen, sondern von der ganzen schwarzen Schafherde! Wer tatsächlich jenseits von Sonntagsreden etwas ändern möchte, sollte froh sein, dass sich jetzt ein Zeitfenster bietet, in dem der öffentliche Druck ermöglicht, die Zustände wirklich zu verbessern. Es ist unsere Verantwortung, das zu tun. Genau diese Zustände waren auch hier im Landtag in den letzten Jahren mehrfach Thema, die Kollegin Eickhoff- Weber hat Ihnen das oft genug vorgehalten. Wir kennen die Probleme. Jetzt ist es Zeit, Nägel mit Köpfen zu machen. Dazu hat meine Fraktion drei Anträge vorgelegt, mit denen wir die Probleme konsequent angehen wollen. Wir müssen gute Arbeitsbedingungen, konsequente Kontrollen, die besondere Lage von EU- Arbeitnehmerinnen und –Arbeitnehmern und die Wohnsituation in den Gemeinschaftsunterkünften zusammen denken, weil die Missstände Ausdruck eines gemeinsamen Problems sind. Das Mindeste sollte sein, klare Unterstützung aus Schleswig-Holstein für das Arbeitsschutzprogramm von Hubertus Heil zu signalisieren. Außerdem braucht es eine Vor-Ort-Arbeitsinspektion in den großen Standorten im Land, einen Runden Tisch zur Fleischwirtschaft, den brancheneinheitlichen Tarifvertrag und eine Bündelung der Zuständigkeiten in der Landesregierung, um die Situation in der Fleischindustrie in Schleswig-Holstein rückhaltlos zu analysieren und zu verbessern. Wir brauchen bessere Beratung und besseren Arbeitsschutz für EU-Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Wir müssen Betriebsräte in den betroffenen Unternehmen stärken (eine diesbezügliche Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes scheitert nun wirklich nicht an der SPD), die Beratungsstelle Arbeitnehmerfreizügigkeit stärken, aufsuchende Sozialarbeit und Sprachkurse anbieten. Und wir müssen die staatliche Arbeitsschutzbehörde so aufstellen, dass Kontrollen in dem Umfang möglich sind, der ganz offensichtlich nötig ist. Ein guter Anfang, liebe Landesregierung, wäre, zumindest endlich die offenen Stellen zu besetzen. Und gerade nach den letzten Wochen braucht es den besonderen Fokus auf die Unterbringungssituation. Es kann nicht sein, dass wir im Land Black Boxes haben mit Wohnumständen, die man dem ärgsten Feind nicht wünschen würde. Die Behörden benötigen lückenlose Kontrollmöglichkeiten und wir sind überzeugt, dass die von uns vorgeschlagene Anpassung des Bau-ordnungsrechts dafür der richtige Weg ist, weil er die Kommunen handlungsfähig macht. Und all das passiert ja mitten unter uns.



2 Wir leben in einer Zeit, in der für die allermeisten von uns im Alltag weit weg ist, wie das Fleisch produziert wird, was wir in Supermärkten und bei Discountern kaufen und was schlussendlich auf unseren Tellern landet. Viele Diskussionen werden dadurch abstrakt und wir sollten uns vor einer Selbstbedienungsmentalität hüten, bei der gleichgültig ist, wie Produkte entstehen – Hauptsache sie liegen möglichst billig im Regal. Darum braucht es Wertschätzung für diejenigen, die Lebensmittel produzieren: • Das gilt für die Landwirtschaft. Übrigens auch dann, wenn einige Vertreter des Berufsstandes sich auf derart inakzeptable Art und Weise präsentieren, wie wir das in den vergangenen Tagen erlebt haben. Bezüge auf eine völkische, nationalistische und antisemi-tische Bewegung dürfen in unserer Demokratie keinen Platz haben – wer sich mit Republikfeinden gemein macht, verabschiedet sich aus jedem anständigen Diskurs! • Es gilt aber eben auch für die diejenigen, die in der Fleischindustrie tätig sind. Und ihnen schulden wir, vor den Verhältnissen und gravierenden Missständen nicht die Augen zu verschließen. Wir freuen uns, dass sich die Koalitionsfraktionen kurz vor der Sommerpause noch auf einen gemeinsamen Antrag einigen konnten. Auf Bundesebene konnte man die letzten Wochen gut beobachten, was FDP und Teile der Union insbesondere von der Begrenzung der Werkverträge hielten. Auch hier die stumpfe Wiederholung der Warnung vor Abwanderung ins Ausland. Wer so argumentiert, hat kaum Interesse an echten Veränderungen – wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass! Und wenn ich hier im Land die Kommentierung Ihres gemeinsamen Antrages durch Herrn Richert höre, der die weitgehenden Vorschläge auf Bundesebene für „Tamtam mit wenig Wirkung“ hält, machen Sie ziemlich deutlich, zu wie viel gemeinsamer Konsequenz diese Koalition wirklich bereit ist. Einig sind Sie sich – wie immer -, dass die Lösungsvorschläge auf Bundesebene nicht optimal sind – aber den einen von Ihnen (GRÜNE) geht es nicht weit genug und den anderen (FDP) viel zu weit – und die Schwarzen schweigen. Das ist ein schwieriger Ausgangspunkt für eine gemeinsame Position. Und einig sind Sie sich auch, dass im Zweifel der Bund eine Lösung finden soll wie bei der Arbeitsstättenverordnung, obwohl wir hier im Land ohne Zeitverzug eine eigene Lösung auf den Weg bringen könnten. Ich bin mir sicher, das wird auch die Beratung in den Ausschüssen zeigen. Das Beispiel der Fleischindustrie zeigt, wie mächtig und gut organisiert Interessen vertreten werden können, die ganz offensichtlich wenig mit dem Allgemeinwohl zu tun haben. Es braucht Durchsetzungskraft, um sich solchen Interessen entgegenzustellen. Ich bleibe dabei, dass die, die für die beschriebenen Zustände Verantwortung tragen, nicht in Chefbüros gehören, sondern hinter Gitter. Aber das ist ein kleiner Preis für einen großen Fortschritt in Sachen Arbeitnehmerrechten.“



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