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20.05.21
15:32 Uhr
SSW

Lars Harms: Trotz Demokratisierung war der Nazi-Ungeist nicht weg

Presseinformation Kiel, den 20. Mai 2021


Es gilt das gesprochene Wort.



Lars Harms
TOP 62 Folgestudie: Geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung der
personellen und strukturellen Kontinuität nach 1945 in der
schleswig-holsteinischen Legislative und Exekutive
Drs. 19/2953, 19/684

„Verhalten der Polizei, Rechtsprechung, Verwaltungshandeln aber auch
politisches Handeln war eben doch noch vom Gedankengut der Nazis
durchsetzt. Und das war auch kein Wunder, wenn beispielsweise 80% aller Juristen vorher stramme Nazis gewesen waren.“

Mit der heute vorgelegten Untersuchung setzen wir die Untersuchung, die den Landtag in der Zeit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg betraf, weiter fort. Es ging darum, nun auch Kontinuitäten in Justiz und Polizei aufzeigen zu können und zu sehen, ob das, was für den Landtag festgestellt wurde, auf für die Kommunalpolitik galt. Betrachten wir erst einmal die Kommunalpolitik. Da ist eine der untersuchten Kommunen die Stadt Flensburg, mit den damals ganz aktuellen deutsch-dänischen Umbrüchen. Und auf der anderen Seite steht der Kreis Süder-Dithmarschen als eine der ehemaligen Hochburgen des Nationalsozialismus. Die Untersuchung zeigt, dass man in Flensburg anfangs doch eher weniger ehemalige Nazis in der Ratsversammlung hatte, dies sich aber nach und nach – ich nenne es einmal – der allgemeinen Tendenz anpasste. Soll heißen, auch hier fassten


( ( 2

Menschen schnell wieder politisch Fuß, die mit den Nazis gemeinsame Sache machten
oder gar schwere Schuld auf sich geladen hatten. In Süder-Dithmarschen erfolgte dieser Prozess noch schneller. Eigentlich verwundert dies ein wenig, denn im Gegensatz zum Landtag, dem naturgemäß die räumliche Nähe zu den Menschen fehlt, setzen sich die
kommunalen Vertretungen ja aus den Menschen vor Ort zusammen. Jeder kennt jeden und jeder kennt die Verfehlungen des jeweils anderen. Dass trotzdem Menschen mit schlimmer Vergangenheit wieder in Amt und Würden kamen, kann man nur auf eine Art und Weise erklären: Die meisten Menschen waren sich bewusst, dass auch sie Schuld auf sich geladen hatten und deshalb zu einem Großteil eine ähnliche Vergangenheit hatten wie diejenigen, die sie wieder in ihre Ämter wählten.
Ein etwas anderer Mechanismus wirkte sich bei der Polizei und der Justiz aus. Hier
benötigte man Fachpersonal und übernahm dieses größtenteils ohne Umschweife. Nur wer nachweisbar schwerste Verbrechen begangen hatte, musste mit einer Art Wartezeit rechnen. Aber selbst dann, war eine spätere Übernahme in den Staatsdienst nicht ausgeschlossen. Eigentlich hatte man immer vermutet, dass informelle Seilschaften dazu geführt hätten, dass Nazis wieder Fuß fassten. Das mag auch eine Rolle gespielt haben. Aber eigentlich bedurfte es dieser Seilschaften gar nicht. Die Quote derer, die das Naziregime in Polizei und Justiz stützte war vergleichsweise hoch, und genau deshalb
schien man keine Wahl zu haben, wenn man neu anfangen wollte, als eben genau diese Leute weiter zu übernehmen. Aus heutiger Sicht wirkt dies grauenhaft, aus damaliger Sicht mag man keine andere Möglichkeit gesehen haben. Und auch hier muss man sagen, dass die breite Bevölkerung dies wohl auch deshalb zuließ, weil man selbst oft nicht besser als diese Menschen war.
Dies lässt sich auch anhand der gesellschaftlichen Konflikte belegen, die es Ende der 50er bis in die 70er Jahre hinein gegeben hat. Es war vorwiegend die Jugend, die dies anprangerte. Es waren diejenigen, die die angebliche Gnade der späten Geburt hatten. Übrigens auch eine Beschreibung derjenigen, die sich entlasten wollten. Man hatte 3

natürlich auch vor und während der Nazizeit die Möglichkeit, sich nicht an deren Unwesen
zu beteiligen. Das aber nur am Rande.
Prägend war nämlich, dass trotz Demokratisierung der Bundesrepublik, der Nazi-Ungeist nicht weg war. Im Gegenteil, die Vorgänge beispielsweise rund um die Kinderheime in dieser Zeit, zeigen eindeutig, dass viele immer noch so dachten, wie schon vor 1945. Hier ist sozusagen auch die Kontinuität zu sehen, die sich durch die jungen Jahre der Bundesrepublik gezogen hat. Verhalten der Polizei, Rechtsprechung, Verwaltungshandeln aber auch politisches Handeln war eben doch noch vom Gedankengut der Nazis durchsetzt. Und das war auch kein Wunder, wenn beispielsweise 80% aller Juristen vorher stramme Nazis gewesen waren.
Die Untersuchung macht aber auch deutlich, dass es extreme menschliche Abgründe gab. Menschen die verfolgt und gequält wurden, sahen sich nicht nur diesen Alt-Nazis in Justiz, Verwaltung und Politik ausgesetzt, sondern manchmal war man genötigt, mit diesen beruflich zusammen zu arbeiten. Man saß im gleichen Büro oder Tür an Tür. Heute kann man sich das nicht vorstellen. Opfer und Peiniger zusammen an einem Arbeitsplatz. Man schwieg, ließ „die Sache“ ruhen und machte sich an den Aufbau der neuen Republik. Wie das möglich war, kann man nach heutigem Ermessen gar nicht nachvollziehen. Auch das mag einmal wissenschaftlich untersucht werden. Aber es ist so, wie wir auch schon bei der Landtagsstudie festgestellt hatten: Irgendwie ist es gelungen, eine neue Demokratie aufzubauen, trotz der enormen Verbrechen, die geschehen waren.
Und diese Verbrechen werden eben auch durch die einzelnen Biografien in all ihrer Schrecklichkeit sichtbar. Wer die Studie liest und wer die Verbrechens-Biografien nachvollzieht, für den ist klar, dass Nazis und extremistische Bestrebungen immer und überall auch in der Zukunft bekämpft werden müssen.



Hinweis: Diese Rede kann hier ab dem folgenden Tag als Video abgerufen werden:
http://www.landtag.ltsh.de/aktuelles/mediathek/ 4