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23.11.22
17:32 Uhr
SPD

Martin Habersaat zu TOP 21,25,42+63: Inklusion und Vielfalt sind keine Schwäche!

Heimo Zwischenberger Pressesprecher der SPD-Landtagsfraktion
Adresse Düsternbrooker Weg 70, 24105 Kiel Telefon 0431 988 1305 Telefax 0431 988 1308 E-Mail h.zwischenberger@spd.ltsh.de Webseite www.spd-fraktion-sh.de Es gilt das gesprochene Wort!

Hinweis: Diese Rede kann hier als Video abgerufen werden: http://www.landtag.ltsh.de/aktuelles/mediathek

LANDTAGSREDE – 23. November 2022
Martin Habersaat: Inklusion und Vielfalt sind keine Schwäche! TOP 21,25,42+63: Rahmenkonzept zur Etablierung von Campusklassen erstellen und Konzept zur Verbesserung der Leistungen von Grundschul-schülerinnen und –schülern sowie Berichte zu Absturz von Grundschulleistungen aufarbeiten und über die Unterrichtssituation 2021/22 (Drs. 20/256, 20/345, 20/398, 20/325) „Die Landtagspräsidentin hat uns zu Beginn dieser Legislaturperiode die Welt des Sports nahegelegt, um Sachverhalte zu verdeutlichen. Deshalb möchte ich uns alle auf ein Schulsportfest mitnehmen. Bitte stellen Sie sich vor: Die siebten Klassen einer Schule treten im Staffellauf gegeneinander an. In der 7b läuft Max mit, ein adipöses Kind und nicht so schnell wie die anderen. Die 7b belegt beim Staffellauf den letzten Platz. Nach dem Wettkampf tritt die Klassenlehrerin vor ihre Schülerinnen und Schüler. Sie beginnt mit den Worten: „Ich bin so enttäuscht. Wir haben verloren. Und wir müssen die Gründe offen benennen. Max, du bist einfach zu dick!“ Ja, als Lehrerin hielten wir alle diese Frau für ungeeignet. Wir würden uns vermutlich alle wünschen, sie trüge nicht die pädagogische Verantwortung für Max, nicht für die 7b und nicht für unsere Kinder. Aber wie ist das mit einer Bildungsministerin, deren Land beim IQB- Bildungstrend abschmiert und die hinterher die Verantwortung bei Menschen mit Behinderung und bei Ausländern sucht? Und ja auch nicht zum ersten Mal.
Januar 2022: Schleswig-Holstein beklagt hohe Zahlen bei den Schulabgänger*innen ohne Abschluss. Als Grund dafür fällt der Bildungsministerin zunächst die Inklusion ein. Michaela Pries, die Landesbeauftragte für Menschenmit Behinderung, schaltet sich ein und bezeichnet diesen Erklärungsansatz ihrer Parteifreundin als „schwierig“. Aus der Statistik lasse sich nicht ableiten, dass Inklusion gescheitert sei, sagt Prof. Friederike Zimmermann von der Christian-Albrechts-Universität.
Oktober 2022: Beim dritten bundesweiten IQB-Vergleich am Ende der 4. Jahrgangsstufe in Deutsch und Mathematik ging es in Schleswig-Holstein in allen Bereichen bergab, in der Orthografie und in Mathematik sogar deutlich stärker als im Bundesschnitt.


1 Erfolge beim Lesen zwischen 2011 und 2016 wurden 2016 bis 2021 wieder eingebüßt. 21,9 Prozent der Schülerinnen und Schüler erreichen in Mathematik den Mindeststandard nicht. Auf den ersten Blick mag trösten, dass das nah beim Bundesschnitt von 21,8 Prozent liegt, aber: Wir kommen von 13,2 Prozent 2016. Und: In sechs Bundesländern haben sich die sozialen Ungleichheiten signifikant verstärkt. Darunter: Schleswig-Holstein.
Wir können uns über diese Ergebnisse nicht freuen. Deshalb können wir auch den Jubelteilen im Antrag von CDU und Grünen nicht zustimmen, auch wenn er in einem zentralen Punkt richtig liegt: Die Landesregierung braucht eine wissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigende Gesamtstrategie!
Karin Prien, befragt nach Gründen für das Desaster, nennt: Fortschreitende Inklusion und Schüler*innen mit Migrationshintergrund. Für’s Protokoll: In Schleswig-Holstein schreitet die Inklusion nicht voran. Nicht mehr: In der Verantwortung von CDU, Ministerpräsident Günther und Ministerin Prien stieg die Exklusionsquote an unseren Schulen. Und auch sonst ist diese Aussage in vielerlei Hinsicht falsch! Der Landesverband für körper- und mehrfachbehinderte Menschen Schleswig-Holstein schreibt der Ministerin: „Während das Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung eine Selbstverständlichkeit sein sollte, erfahren viele Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Behinderung und ihre Familien tagtäglich Ausgrenzung, Anfeindung und Diskriminierung. … Stigmatisierung und Diskriminierung sind die Folge solcher viel zu kurz gefassten Stellungnahmen, die einer Politikerin wie Ihnen nicht passieren darf.“
Es ist falsch, so zu argumentieren. Bei der 7b auf dem Sportfest genauso wie bei der Pressekonferenz als Ministerin. Es ist pädagogisch falsch, aber auch inhaltlich. Hamburg mit vergleichbaren Zahlen in der Inklusion ist einer der wenigen Hoffnungsschimmer dieser IQB- Studie. Schleswig-Holstein mit steigender Exklusionsquote in der Regierungszeit Günther/Prien ist das Gegenteil.
Unsere Bildungsministerin unterstellt, dass das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung einen negativen Einfluss auf das Leistungsniveau insgesamt habe. „Die Hypothese, Inklusion bedinge das Absinken der Schulleistungen in der IQB-Studie als Negativ-Faktor mit, hält einer wissenschaftlichen Prüfung nicht stand.“ Da sage nicht ich, das sagen David Scheer, Menno Baumann, Conny Melzer und Markus Gebhardt – Pädagogik-Professor*innen aus Ludwigsburg, Düsseldorf, Leipzig und Regensburg. Das hätte ich Ihnen aber auch sagen können.


2 Sie machen mit der Inklusion Politik, bzw. gegen die Inklusion. „Inklusion ist politischer Konsens gewesen“, sagten Sie im Bildungsausschuss. Ist gewesen - Zeitform Perfekt, vollendete Gegenwart. Frau Prien, für hoffentlich große Teile dieses Hauses ist das noch immer Konsens. Respektieren Sie diesen Konsens oder gehen Sie!
Ja, und dann sind da noch die Ausländer, die, wie auch die Menschen mit Behinderung, nicht zum ersten Mal als Sündenbock herhalten müssen. Gucken wir mal auf die Zahlen: 28,8 Prozent der Schülerinnen und Schüler in Schleswig-Holstein haben einen Migrationshintergrund, niedrigere Werte haben nur die ostdeutschen Bundesländer.
Ja, unsere Grundschulen sind in einer Krise. Aber das liegt nicht an der Inklusion und nicht an Schüler*innen mit Migrationshintergrund. Eher liegt es an der Umsetzung der Inklusion durch die zuständige Ministerin und die Zur-Verfügung-Stellung notwendiger DAZ-Ressourcen. Hinterfragen Sie doch mal die alten CDU-Rezepte von strengerer Sortierung und härterer und früherer Notengebung und gucken Sie sich die Lage an.
Ein Blick in den eigenen Bericht zur Unterrichtssituation zeigt doch die Probleme klar auf: Für den schulamtsgebundenen Bereich einschließlich der Förderzentren stehen 12.156 Planstellen zur Verfügung. Davon sind 11.916 Stellen besetzt. 487 allerdings mit Menschen, die z.B. wegen Elternzeit oder Sabbatjahr überhaupt nicht unterrichten können. Aus einer Unterrichtsversorgung von 102 Prozent wird so eine von 98 Prozent. Mehr als 14 Prozent der Lehrkräfte an den Grundschulen haben keine abgeschlossene Lehramtsausbildung. Mehr als ein Zehntel der Stunden fällt aus oder wird nicht planmäßig erteilt. Das ist doch die Realität, die Ihnen alle Eltern vor Ort berichten können. Ihre Reaktion ist - wieder einmal - das vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels eher theoretische Heraufsetzen der zu unterrichtenden Stunden, anstatt endlich die Qualität der unterrichteten Stunden in den Fokus zu nehmen. Die guten Ergebnisse 2016 lagen jedenfalls erkennbar nicht daran, dass damals mehr Stunden als „zu unterrichtend“ in den Plänen standen. Und wenn Schüler*innen Angst vor Mathe haben, ist „mehr Mathe“ nicht automatisch die richtige Antwort.
Vorausschauende Einstellungspolitik gab es bei Ihnen nur für die Gymnasien, um für G9 gewappnet zu sein. Sie verweigern den Grundschulen seit sechs Jahren eine Ausweitung der Schulassistenz. Sie wissen lange, dass unkoordinierte Fortbildung einzelner Kolleg*innen einer Schule genau null Effekt für die Unterrichtsqualität hat. Sie nehmen riesige Unterschiede in der Fachkräfteversorgung im Land in Kauf.


3 Sie ahnen, so hoffe ich, wie Schule und Unterricht sich entwickeln sollten und starten trotzdem Nebelkerzenoffensiven zu nicht gegenderter Sprache und Imagekampagnen für die industrielle Landwirtschaft.
Und, meine Damen und Herren von CDU und Grünen, bleiben Sie wirklich dabei, die Maßnahmen zum Aufholen nach Corona nach diesem Schulhalbjahr im Februar auslaufen zu lassen? Was funktioniert, ist von Vorgängerinnen auf den Weg gebracht worden, die hier von Ihnen oft und gerne kritisiert werden und deren Maßnahmen Sie nun retten: Das Programm „Niemanden zurücklassen“ startete im Schuljahr 2006/07. „Mathe macht stark“ wurde 2013 etabliert. „Lesen macht stark“ 2014 ausgebaut. Der Prien-Ansatz „Hinter einen schönen Handschrift verbirgt sich ein schöner Charakter“ verschwand 2018 glücklicherweise wieder in der Schublade. Aber wo sind die qualitativen Weiterentwicklungen?
Dass der Fortschritt in dieser Koalition eine Schnecke ist, beweisen Sie mit Ihrem heutigen Antrag zu Campusklassen: 2014, vor acht Jahren, empfahl der Inklusionsbericht der damaligen Landesregierung Campuslösungen. Nun war das eine Regierung von SPD, Grünen und SSW und somit farblich in Teilen vielleicht aus Ihrer Sicht die falsche. 2020 legte dann die Bildungsministerin Prien einen Inklusionsbericht vor, der für die Förderzentren die Bandbreite von punktuellen Kooperationen über Campuslösungen bis zu regelhaftem gemeinsamen Unterricht an einem Schulstandort empfahl. Und Ende 2022 muss dieselbe Bildungsministerin vom Landtag aufgefordert werden, endlich ein entsprechendes Konzept vorzulegen. Dem können wir nur zustimmen.
Der wichtigste inhaltliche Aufschlag der Bildungsministerin zum IQB-Desaster war eine Sprachstandserhebung für 4 ½-Jährige nach Hamburger Vorbild. Diese müssten dann allerdings verbindlich -und natürlich beitragsfrei- in der Kita gefördert werden. Das wurde von der Sozialministerin ziemlich schnell abgeräumt und nun steht Schleswig-Holstein konzeptionell blank da und mit einer Ministerin, die der Inklusion und der Migration die Schuld gibt.
Meine Damen und Herren, so wie es ist, kann es nicht bleiben. Inklusion und Vielfalt sind keine Schwäche. An beiden liegt es nicht. Es liegt bei uns!“



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