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19. Februar 2021 – Anhörung im Landtag

Experten mahnen zur Vorsicht in der Pandemie

Wie soll es in der Corona-Pandemie weitergehen? Dazu haben Experten im Landtag ihre Positionen erläutert. Für den Stufenplan der Landesregierung gibt es viel Zustimmung, aber auch Kritik und Forderungen nach Korrekturen.

Die Abgeordneten sitzen im Plenarsaal des Schleswig-Holsteinischen Landtages in einem Rund zusammen. In der Mitte stehen zwei Monitore, auf dem Helmut Fickenscher, Leiter des Instituts für Infektionsmedizin an der Kieler Uni. zu sehen ist.
Wie ist der Corona-Pandemie beizukommen? Erneut kommt der Landtag zu einer Anhörung im Plenarsaal zusammen. Foto: Thomas Eisenkrätzer

Der Landtag sucht für neue Entscheidungen in der Corona-Krise den Rat von Experten. Nach einer ersten großen Anhörung im November hat der Landtag heute eine zweite Runde für alle Abgeordneten angesetzt. Der Fokus liegt diesmal auf dem vorgeschlagenen Perspektivplan der Landesregierung und den darin vorgeschlagenen Öffnungsschritten. Die Landtagsabgeordneten hören im Plenarsaal elf Experten an. „Ihre Einschätzungen sollen uns als fachlich-wissenschaftliche Grundlage des politischen Handelns dienen“, sagte Landtagspräsident bei Eröffnung der Hybridveranstaltung. Insgesamt fünf Themenblöcke stehen heute auf der Agenda.

Wie im vergangenen Jahr bildet die öffentliche Anhörung der Experten auch diesmal den Auftakt für weitere parlamentarische Beratungen zu den Themen. In den Fachausschüssen werden die Abgeordneten die verschiedenen Aspekte der Corona-Pandemie vertieft weiterbehandeln und sich mit weiteren Fachleuten und Betroffenen austauschen.

Themenblock 1
Expertin fordert Kontaktbeschränkungen bis Herbst

Der Themenblock zu den medizinischen Aspekten bei der Umsetzung des Perspektivplans nahm offene Fragen zu den Virusmutationen, der Teststrategie sowie der Impfkampagne in den Blick. „Durch die Lockerung der Kontaktbeschränkungen läuten wir die dritte Welle ein“, mahnte Alexandra Barth, Leitende Amtsärztin des Gesundheitsamtes in Neumünster. Die Kontaktregeln in der Corona-Pandemie sollten nicht zu stark und zu früh gelockert werden, sondern bis in den Herbst beibehalten werden, so Barth. Es gehe darum die, die dritte Welle so flach wie möglich zu halten: „Wir müssen aufpassen, dass es kein Tsunami wird“, so Barth.

Prof. Jan Rupp, Direktor der Klinik für Infektiologie und Mikrobiologie am Campus Lübeck, kritisierte diese Formulierung. „Ich bin gegen solche Kraftausdrücke, weil sie Angst schüren“, sagte er. Die Zero-Covid-Strategie, die in der Bundesregierung wohl Zuspruch erhält, bezeichnete Rupp als „Hybris“. Die Inzidenzzahlen auf null zu bekommen, sei nicht möglich. „Es wird immer ein Restrisiko geben, dass wir tragen müssen“, so Rupp. Denn wenn die Bevölkerung nicht mehr mitmache, sei das genauso schlimm wie die Auswirkungen der hochansteckenden Virus-Mutanten. Der Mediziner forderte einen „nüchternen Blick“, etwa auf das Risiko bei familiären Treffen oder Reisen.

Infektionstreiber Tourismus

Dem widersprach Prof. Helmut Fickenscher, Leiter des Instituts für Infektionsmedizin an der Kieler Uni. Der Tourismus sei im letzten Sommer und Herbst „die echte Ursache für die zweite Welle gewesen“. Den von Bundesgesundheitsminister Spahn angepriesenen Schnelltests bescheinigte er aktuell eine „mäßig gute Qualität“. Sie seien nicht für den Hausgebrauch geeignet.

Prof. Klaus Rabe, Ärztlicher Direktor und medizinischer Geschäftsführer der LungenClinic Großhansdorf, unterstützte Fickenscher: „Die Begeisterung für Testungen ist politische Natur.“ Schnelltests könnten allenfalls ein Baustein in der Bekämpfung der Pandemie sein. Die oftmals falsch positiven Ergebnisse verursachten viel unnötige Arbeit in den Laboren und könnten das System überfordern, so Rabe.

Die Landtagsabgeordneten stellten den Experten zahlreiche Rückfragen. Besonders die Auswirkungen der Virusmutationen und die Digitalisierung der Gesundheitsämter trieben die Parlamentarier um.

Themenblock 2
Kinder leiden unter der Isolation

Schulen und Kitas müssen „je eher desto besser“ in den normalen Modus zurückkehren, ansonsten drohen erhebliche psychische Folgen bei Kindern und Jugendliche. Darauf hat Prof. Kamila Jauch-Chara, Direktorin der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie am UKSH hingewiesen. „UNICEF spricht bereits jetzt von einer verlorenen Kinder-Generation“, mahnte sie. 80 Prozent der Kinder fühlten sich deutlich in ihrer Lebensqualität eingeschränkt, und bei einem Drittel der Kinder seien psychische Probleme diagnostiziert worden. Wenn das Erlebnis von Gemeinschaft weiter ausbleibe, dann seien Störungen in der Persönlichkeitsentwicklung und der emotionalen Intelligenz zu befürchten, die wohl erst im Erwachsenenalter sichtbar würden. Die Professorin rief die Schulen auf, die Ängste der Schüler im Unterricht anzusprechen.

Eine weitere stark betroffene Gruppe, die oft „außer Acht gelassen“ werde, seien die 17,8 Millionen Single-Haushalte in Deutschland, merkte Jauch-Chara an. Die Fälle von Einsamkeit, Depressionen und Angststörungen seien während des Lockdowns stark gestiegen, und die Zahl der Krankschreibungen aufgrund von psychischen Leiden habe um acht Prozent zugenommen.

Krisenforscher kritisiert Bundesregierung

Auf die Frage von Claus Schaffer (AfD) wies Jauch-Chara darauf hin, dass es auch mehr häusliche Gewalt und mehr Suizidversuche gebe. So hätten sich in einigen Regionen bis zu zehn Mal mehr Frauen an die Frauenhäuser gewandt als in der Zeit vor Corona. In Deutschland habe es im vergangenen Jahr rund 1.000 mehr Selbstmordversuche gegeben als vor der Pandemie. Ihre Forderungen: Kultureinrichtungen sollten wieder öffnen dürfen, die Kontaktregeln sollten auf zwei Haushalte ausgeweitet werden, und Kinder und Jugendliche sollten wieder Sport in Gruppen treiben dürfen.

Frank Roselieb, Direktor des Krisennavigator-Instituts für Krisenforschung in Kiel, rief die Politik auf, in einer klaren Sprache mit den Menschen zu kommunizieren. Die Kommunikation der schleswig-holsteinischen Landespolitik habe „Hand und Fuß“, so Roselieb. Demgegenüber sei der Schwenk der Bundesregierung auf eine Inzidenz von 35, ab der Lockerungen möglich sein sollen, nicht nachvollziehbar. „Ändern Sie bitte nicht mitten in der Krise Ihre Spielregeln wie die Bundespolitik“, riet er den Abgeordneten. „Nur mit einer Bevölkerung, die die Maßnahmen akzeptiert, können wir der Pandemie Herr werden“, betonte auch Dennys Bornhöft (FDP). Es gehe darum, so Katja Rathje-Hoffmann (CDU), einen Mittelweg zwischen den nötigen Kontaktbeschränkungen und dem sozialen Leben zu finden, „damit die Folgeschäden nicht zu große werden“.

Themenblock 3
Junge Menschen mehr einbeziehen

Die Vorsitzende des Jungen Rates Kiel, Emma-Louisa Döhler, machte in ihrem Eingangsstatement deutlich, dass Kinder und Jugendliche besonders stark von der Pandemie betroffen seien. „In unserer Lebenswelt fällt gerade so gut wie alles weg“, erklärte Döhler. Es sei nichts mehr wie vor Corona. Gleichzeitig würden junge Menschen wenig eingebunden und fühlten sich in ihrer Situation nicht ernstgenommen. Daher brauche es mehr Beteiligungsmöglichkeiten.

Auch Gunda Voigts, Professorin für Grundlagen der Wissenschaft und Theorien Sozialer Arbeit an der HAW Hamburg, kritisierte, dass die Perspektive von Kindern und Jugendlichen zu wenig berücksichtigt werde. Ihr Appell: „Das Wohl der Kinder und Jugendlichen muss Vorrang haben.“ Kindheit und Jugend lassen sich nicht verschieben.

Schulen nicht nur Lernort

Zur Sprache kamen auch Probleme im Home-Schooling und Chancengleichheit. Die Vorsitzende des Jungen Rates in Kiel forderte weniger Prüfungen und einen erleichterten Schulabschluss – und mehr außerschulische Angebote wie ein wöchentliches Freizeitangebot für alle Kinder und Jugendlichen. Auf Nachfrage aus den Reihen der Abgeordneten etwa von Ines Strehlau (Grüne) und Anita Klahn (FDP), wie ein solches Angebot angesichts der Pandemie aussehen könnte, schlugen Döhler Aktivitäten draußen und in festen Gruppen vor.

Die Hamburger Professorin mahnte zudem eindringlich, Schulen nicht nur als Lernort zu betrachten. Schule sei vielmehr ein Ort, um Freundinnen und Freunde zu treffen und sich mit Gleichaltrigen auszutauschen. „Das geht nicht nur Zuhause, Kontakte außerhalb der Familie sind wichtig“, so Voigts. Kinder bräuchten Freiräume, Erlebnisse und Spaß. Beide Expertinnen regten zudem an, die Corona-Regeln, wie auch den Perspektivplan der Landesregierung, in leichter Sprache für alle verständlich zu machen.

Themenblock 4
Ökonomische Bedeutung der Schulen

Auch aus ökonomischer Sicht müssten Schulen schnellstmöglich für alle Klassenstufen wieder öffnen, sagte Wirtschaftsexperte Prof. Gabriel Felbermayr, Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft. Starke Einschränkungen im schulischen Bereich wirken „sich auf das Erwerbspotential der Menschen bis zur Rente aus“, sagte Felbermayr. Pro Schuljahr, das nicht regulär stattfinden kann, sinke das zukünftige Einkommen pro Jahr. Das bedeute „gigantische ökonomische Belastungen“ über das gesamte Erwerbsleben der heutigen Schüler für die Gesellschaft. 

„Wir brauchen ein funktionierendes Kompensationssystem“, sagte der Ökonom mit Blick auf die Belastungen der Unternehmer. In diesem Zusammenhang kritisierte Felbermayr das aktuelle System der Wirtschaftshilfen. Dieses basiere auf den Umsätzen der Unternehmen und deren Betriebskosten. Das helfe „nicht den Unternehmern, sondern den Banken und Immobiliengesellschaften.“ Überhaupt sei der Begriff „Hilfen“ nicht richtig gewählt. Es bestehe „de facto ein Berufsausübungsverbot“, und das „muss kompensiert werden.“ Würden statt der Fixkosten die Betriebsüberschüsse als Basis der Berechnungen von Wirtschaftshilfen gewählt, würden „auch die Unternehmer bedacht“.

Inflation droht

Die Pandemie wirke sich für die Branchen sehr unterschiedlich aus. Gewinner sei etwa die Medizintechnik, Verlierer kämen aus der Veranstaltungsbranche, der Gastronomie und dem Tourismus. In diesen Branchen gebe es auch „kaum Nachholeffekte“. Ein Hotel etwa könne in der Sommersaison nicht mehr als die vorhandenen einhundert Betten vergeben. „Die Unternehmen werden an der Preisschraube drehen“, sagte Felbermayr. Eine hohe Inflation könne die Folge sein.

Die Rückfragen aus dem Plenum nahmen psychologischen Aspekte wechselnder Inzidenzrichtwerte, die Bedeutung einer globalen Impfstrategie sowie eine möglicherweise drohende Insolvenzwelle in den Blick.

Themenblock 5
Verfassungsrichter: „Wollen wir alle einsperren?“

Dürfen die Grundrechte von Menschen, die gegen Corona geimpft sind, weiterhin eingeschränkt werden? Die Frage nach „Sonderrechten“ berge „gesellschaftspolitisches Sprengmaterial“, mahnte Achim Theis, Richter am Landesverfassungsgericht und Präsident des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts. Grundrechte dürften nur dann eingeschränkt werden, wenn es absolut erforderlich sei. Eine definitive Antwort sei aber erst möglich, so die Kieler Jura-Professorin Kerstin von der Decken, „wenn jeder ein Impfangebot hatte und wenn wissenschaftlich erwiesen ist, dass eine geimpfte Person keine Gefahr mehr für andere darstellt“. Die Abgeordneten Thomas Rother (SPD) und Joschka Knuth (Grüne) hatten das Thema angesprochen.

Lars Harms (SSW) wies auf die „massivsten Grundrechtseinschränkungen“ hin, die am Sonnabend in Flensburg in Kraft treten. Dort gelten wegen der Verbreitung einer Corona-Mutation strenge Kontaktbeschränkungen sowie eine Ausgangssperre von 21 Uhr bis 5 Uhr. Dies sei „in der Tat eine sehr hart eingreifende Maßnahme“, so von der Decken. Rechtlich seien diese Schritte aber für den Zeitraum von einer Woche möglich, „wenn alle anderen Maßnahmen nicht gefruchtet haben“. Theis sprach von „einer Maßnahme, die wirklich ganz am Ende stehen sollte“. „Wie weit wollen wir denn noch gehen?“, fragte er: „Wollen wir alle einsperren?“

Parlamente stärker beteiligen

Lob gab es von den beiden Juristen für den „Stufenplan“ der Landesregierung. Angesichts der langen Dauer der Pandemie sei es angebracht, die Corona-Maßnahmen präzise zu fassen und auch Perspektiven für Lockerungen zu eröffnen. Grundlage müsse der neue Paragraf 28a im Infektionsschutzgesetz des Bundes sein, so von der Decken. Theis rief die Parlamente in Bund und Land auf, sich stärker in die Debatte einzubringen: „Je länger es dauert, desto mehr ist eine parlamentarische Legitimation für die Eingriffe nötig.“