Offene Grenzen, mehr Minderheitenschutz, Armutsbekämpfung – das sind Kernforderungen aus Schleswig-Holstein an die Europäische Union. Experten gaben Anfang November im Europaausschuss ihre teils kritischen Gedanken über die „Konferenz zur Zukunft Europas“ zu Protokoll, die bis Mai 2022 Vorschläge zur Weiterentwicklung der EU ausarbeiten soll. Der Ausschuss diskutierte einen ganzen Tag lang mit rund einem Dutzend Institutionen. Auf Grundlage der Anhörung will der Europaausschuss dem Landtag eine Stellungnahme zuleiten, die dann Ende Januar beschlossen wird und anschließend in die Diskussion auf EU-Ebene einfließt.
In einem zukünftigen Europa sollten Grenzen „so wenig spürbar wie möglich“ sein, sagte Peter Hansen vom Regionskontor Sønderjylland-Schleswig. In der Pandemie sei zu spüren, „was passiert, wenn die Grenze nicht so offen ist, wie wir es kennen“. Jette Waldinger-Thiering (SSW) sprach sich ebenfalls gegen „abrupte Grenzschließungen“ aus und mahnte eine bessere deutsch-dänische Abstimmung an. Der Grünen-Abgeordnete Bernd Voß regte europaweite Regeln für einen „kleinen Grenzverkehr“ an, damit Arbeitnehmer, Schüler und Studenten nicht wieder vor geschlossenen Schlagbäumen stehen. Dies sei aus der Region heraus jedoch schwer zu erreichen, so Johannes Callsen, CDU-Abgeordneter und Minderheitenbeauftragter der Landesregierung: „Am Ende ist das Außenpolitik, die in Kopenhagen und Berlin gemacht wird.“
Minderheitenschutz verbessern
Gösta Toft von der Föderalistischen Union Europäischer Nationalitäten forderte eine „Verankerung des Minderheitenschutzes im Rechtsrahmen der EU“ und verwies auf die europaweite Bürgerinitiative „Minority Safepack“ (MSPI). Obwohl mehr als eine Million Unterschriften zusammengekommen seien, lehne die EU-Kommission deren Forderungen weiterhin ab. Die Zukunftskonferenz sei die „beste Gelegenheit“, dieses Anliegen noch einmal vorzubringen, so Toft. „Die Minderheitenperspektive ist immer noch fast unsichtbar in der europäischen Politik“, klagte Ljubica Djordjević vom European Center für Minority Issues. Sie empfahl ein „Minority Mainstreaming“ – die Überprüfung der Effekte der EU-Politik auf Minderheiten. Die SPD-Abgeordnete Regina Poersch wies darauf hin, dass der Landtag sich seit langem fraktionsübergreifend um die Minderheiten kümmere und auch die MSPI unterstütze.
Landespastor Heiko Naß vom Diakonischen Werk forderte mehr EU-Engagement im sozialen Bereich. Zwar habe Brüssel das Ziel ausgegeben, bis 2030 die Zahl der Menschen, die von Armut bedroht sind, auf 15 Millionen zu senken und die Obdachlosigkeit zu besiegen. Aber diese Ziele müssten ambitionierter gefasst werden, denn allein in Schleswig-Holstein hätten 15,9 Prozent der Bevölkerung ein Einkommen unterhalb der Armutsgrenze. „Was hilft den Menschen am meisten?“, fragte der FDP-Abgeordnete Stephan Holowaty: Transferzahlungen, Bildung oder eine dynamische wirtschaftliche Entwicklung? Pastor Naß warb für eine „existenzsichernde Mindestsicherung“, eine Kindergrundsicherung, einen niedrigschwelligen Zugang zum Bildungssystem sowie Investitionen in den Wohnungsbau.
Zweifel an Effektivität
Joachim Krause vom Institut für Sicherheitspolitik an der Uni Kiel, äußerte Zweifel, ob die Konferenz „die großen Probleme Europas lösen wird“. Es gebe derzeit „viele Uneinheitlichkeiten“. So sei die Mehrheit der EU-Staaten gegen eine weitere Vertiefung der Union, und es gebe fundamentale Differenzen in der Fiskalpolitik, der Einwanderungspolitik und der Haltung gegenüber Russland und China. Auch Uwe Puetter vom Studiengang European Studies der Europa-Universität Flensburg blickte skeptisch auf die Zukunftskonferenz. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie zu „tiefgreifenden Vertragsveränderungen“ führe, sei gering. Dennoch solle die Landespolitik sich einmischen, so Puetter: „Die Sichtbarkeit der EU entscheidet sich auch auf Landesebene.“ Der Ausschussvorsitzende Wolfgang Baasch (SPD) wies darauf hin, dass die deutschsprachigen Regionalparlamente ihren Anspruch formuliert hätten, bei der EU mehr Gehör zu finden.
Weitere Diskussionspunkte werden am späten Nachmittag unter anderem noch von Vertretern der Europaschulen, des Landesjugendrings und des Naturschutzes erwartet. ParlaRadio überträgt live bis zum Schluss.
Brüssel fasst Ergebnisse im Frühjahr zusammen
Zum Hintergrund: Europäisches Parlament und EU-Kommission haben Anfang 2021 alle Bürger der Staatengemeinschafft aufgerufen, Ideen zur Weiterentwicklung der Europäischen Union vorzulegen. Die „Konferenz zur Zukunft Europas“ besteht aus Treffen der Zivilgesellschaft in ganz Europa, aus „Bürgerforen“ in Straßburg mit ausgelosten Teilnehmern und aus einer Online-Beteiligung. Für Frühjahr 2022 ist eine „Plenartagung“ in Brüssel geplant, um die Ergebnisse zusammenzufassen. Dann kommen Abgeordnete aus dem Europäischen Parlament, den nationalen Volksvertretungen, Angehörige der Regierungen und der EU-Kommission sowie repräsentativ ausgewählte Bürger zusammen.
Der Landtag will insbesondere „als Mittler zwischen den Bürgern und den EU-Institutionen wirken“, hatte Landtagsdirektor Utz Schliesky im Mai im Europaausschuss betont. Seinen Angaben zufolge sollen die Ergebnisse der heutigen Anhörung in einem Plenarbeschluss münden, den Landtagspräsident Klaus Schlie dem gemeinsamen Vorsitz der Europa-Konferenz übermitteln werde. Darüber hinaus könne der Landtagspräsident das Meinungsbild aus Fach- und Bürgerforen von in Schleswig-Holstein ansässigen Vereinen und Verbänden koordinieren und ebenfalls an die EU-Institutionen weiterleiten.