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2. Februar 2022 – Ausschuss-Anhörung

Ausweitung des Wahlrechts bleibt umstritten

Mehr Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit sollen an Wahlen teilnehmen dürfen. Das regen SSW und SPD an – und lösen damit eine kontroverse Diskussion im Innen- und Rechtsausschuss aus. 

Auf einem Tisch liegen Muster-Stimmzettel für die Kommunalwahl am 6. Mai 2018.
Mehr politische Teilhabe durch Ausweitung des Wahlrechts? Diese Frage stand in der Anhörung zur Diskussion. Foto: dpa, Daniel Bockwoldt

Dies wäre ein wichtiger Schritt, um Integration und Identifikation zu fördern, betonten zahlreiche Fachleute bei einer mehrstündigen Anhörung. Aber es gebe auch verfassungsrechtliche Hürden. Der SSW fordert das aktive und passive Kommunalwahlrecht für alle Menschen, die seit mindestens vier Jahren ihren ständigen Wohnsitz in Deutschland haben – unabhängig von deren Nationalität. Bislang dürfen nur deutsche Staatsbürger und EU-Ausländer die Stadträte und Gemeindevertretungen wählen. Die SPD will darüber hinaus erreichen, dass in Schleswig-Holstein ansässige EU-Bürger auch bei Landtagswahlen an die Urnen gehen können. Angehörige anderer EU-Mitgliedstaaten sind bislang nur bei Kommunalwahlen stimmberechtigt. 

Die beiden Oppositionsparteien rufen die Landesregierung auf, im Bundesrat eine entsprechende Grundgesetzänderung auf den Weg zu bringen. Denn aktuell blockiert ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1990 das erweiterte Ausländerwahlrecht. In Schleswig-Holstein leben etwa 250.000 Menschen ohne deutschen Pass – knapp neun Prozent aller Einwohner. Etwa 80.000 dieser Ausländer sind Angehörige eines anderen EU-Staates. Die übrigen sind überwiegend türkischstämmig.

Kontroverse um „Wohn- und Wahlbevölkerung“

„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, zitierte Prof. Florian Becker von der Uni Kiel Artikel 20 des Grundgesetzes. Und dieses „Volk“ seien die deutschen Staatsangehörigen, und eben nicht die Einwohner anderer Nationalität. Becker warnte vor einer „Verwässerung demokratischer Legitimation“, falls das Wahlrecht auf Nicht-Deutsche ausgeweitet würde. Die Vorgabe des Grundgesetzes gelte für Bundestags- und Landtagswahlen, so Becker, und sie unterliege der „Ewigkeitsgarantie“. Landtag oder Bundesgesetzgeber könnten sie nicht aushebeln, auch wenn ein entsprechender politischer Wille bestehe.  

Dem widersprach Prof. Tarik Tabbara von der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin. Die „Ewigkeitsgarantie“ solle das Grundgesetz nicht vor einer Neugestaltung der Demokratie schützen, sondern vor einem Rückfall in totalitäre Herrschaft. Das Demokratieprinzip verlange, dass diejenigen, die von staatlichen Entscheidungen betroffen seien, auch auf diese Entscheidungen Einfluss nehmen könnten – durch die Teilnahme an Wahlen. Tabbara warnte vor einem „Auseinanderfallen von Wohn- und Wahlbevölkerung“ und empfahl, die Landesverfassung um den Satz zu ergänzen: „An Wahlen und Abstimmungen können auch Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit teilnehmen.“

„Spitzenpolitiker als Vorbilder“

Prof. Kerstin von der Decken, Völkerrechtlerin von der Uni Kiel, pochte auf das „Prinzip der Reziprozität“. Deutschland solle das Wahlrecht nur den Angehörigen jener Staaten zugestehen, die ihrerseits die dort lebenden Deutschen an Wahlen teilnehmen lassen. Dies gelte für alle EU-Staaten, jedoch für viele andere Länder nicht. Prof. Hacil-Halil Uslucan, Integrationsforscher von der Uni Duisburg/Essen, forderte hingegen „Reziprozität“ für alle Menschen, die im Lande leben: „Wenn Herrschaft als legitim wahrgenommen werden soll, dann braucht sie die Zustimmung der Regierten.“ Eine Politik, die Zuwandererinteressen übergehe, beraube sich eines Teils ihrer Legitimation, insbesondere bei den zahlreichen jungen Menschen aus Migrantenfamilien.

Hauke Petersen, stellvertretender Landesbeauftragter für politische Bildung, wies darauf hin, dass die Wahlbeteiligung unter Ausländern laut einer EU-Studie häufig niedriger sei als bei der eingesessenen Bevölkerung. Neu-Wähler müssten also für demokratische Prozesse „sensibilisiert“ werden. Spitzenpolitiker mit Migrationshintergrund wie Bundeslandwirtschafsminister Cem Özdemir hätten Signalwirkung, betonte Thorsten Döring, Stellvertreter des Beauftragten für Flüchtlings-, Asyl- und Zuwanderungsfragen. 

Türkische Gemeinde fordert „Doppelpass“

Es gebe einen klaren Weg zum Wahlrecht – die Einbürgerung. Darauf wies der CDU-Abgeordnete Tim Brockmann hin. Dies müsse der erste Schritt sein. Burkhard Peters (Grüne) blickte auf die Bedingungen für die deutsche Staatsbürgerschaft. So müssten Anwärter nachweisen, dass sie keine sozialen Transferleistungen beziehen. Entsprechend kämen nur Menschen mit ausreichendem Einkommen in den Genuss des Wahlrechts. Peters warnte vor einem „Klassenwahlrecht“. Cebel Kücükkaraca von der Türkischen Gemeinde Schleswig-Holstein forderte den „Doppelpass“. Viele Menschen mit türkischer Abstammung wollten gerne Deutsche werden – aber die türkische Staatsangehörigkeit nicht aufgeben. Dies erlaube die Bundesrepublik derzeit aber nicht. 

Mehr Infos:
Plenardebatte zum Thema im Juni 2021