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7. August 2020 – Porträt-Reihe / 6

Lars Harms und der SSW: „Generalisten“ im Landtag

Wie sieht der Alltag von Abgeordneten aus? Die Online-Redaktion des Landtages hat in den vergangenen Monaten mehrere Parlamentarierinnen und Parlamentarier einen Tag lang begleitet. Den Abschluss der Porträt-Reihe macht Lars Harms (SSW).

Der Vorsitzende des SSW im Landtag, Lars Harms, hält eine Rede im Plenarsaal des Schleswig-Holsteinischen Landtages.
Lars Harms am Rednerpult bei einer Plenartagung. Sein Motto: „Klare Kante statt ewiges Rumgeeiere.“ Foto: Michael August

Minderheitenpolitik zu machen, das bedeutet für die Abgeordneten des SSW im Landtag, selbst einer Minderheit anzugehören: Drei Mandatsträger des Südschleswigschen Wählerverbands kümmern sich aktuell in der 19. Wahlperiode des Landtages besonders um die Anliegen von Friesen und Dänen. Weniger Abgeordnete, das bedeutet mehr Arbeit für jeden einzelnen. Denn um politisches Gewicht zu entwickeln, muss das Dreiergespann neben minderheitenpolitischen Themen zusätzlich die gleichen Politikfelder besetzen wie die großen Fraktionen. CDU und SPD etwa haben 25 beziehungsweise 21 Abgeordnete in ihren Reihen.

Lars Harms, Vorsitzender des SSW im Landtag, gewährt Einblick in die Arbeitsweise der selbsternannten „Generalisten“ vom SSW und veranschaulicht, was den Beruf eines Abgeordneten so spannend macht.

Hinweis: Das Porträt ist im Frühjahr 2020 vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie entstanden.

Arbeit im Dienstwagen

8:00 Uhr. Zwischen Husum und Kiel. Die Morgen sind ruhiger geworden, seit seine sechs Kinder groß sind. Pünktlich um halb acht hat Lars Harms sein Haus in Husum verlassen. Nun sitzt er auf der Rückbank seines Dienstwagens Richtung Kieler Landtag. Der Mittfünfziger liest eine Tageszeitung. Analytischer Blick, eine metallisch glänzende, schmalrandige Brille, die rechte Augenbraue immer etwas höher als die linke. Braune Lederschuhe, Jeans, Anzug-Hemd, Sakko, darüber eine dunkle Outdoorjacke. So leger wie angemessen möglich.

Es ist ruhig im Wagen. Regen klatscht gegen die Fenster der dunklen Limousine. Der Chauffeur schaltet die Scheibenwischer einen Gang rauf. In der Zeit bis zur Ankunft im Landeshaus hat Harms schon ein bis zwei Zeitungen gelesen und auch schon in den Pressespiegel reingeschaut. „So bin ich informiert, was im Groben gelaufen ist“, erklärt er. Das funktioniert natürlich nur, weil er zur Arbeit gefahren wird. Lars Harms kommt in den Genuss dieses Privilegs, seitdem er im Juni 2012 zum Vorsitzenden seiner SSW-Landtagsgruppe gewählt worden ist. Denn wie die anderen Fraktionsvorsitzenden hat Harms einen eigenen Chauffeur. „Da kann man schon richtig gut arbeiten. Früher konnte ich nur telefonieren, jetzt kann ich auch SMS oder WhatsApp verschicken. Und eben Zeitung lesen.“

„Wir haben einen etwas größeren Blick“

Themenübergreifend auf dem neuesten Stand zu sein, das ist besonders für die Mitglieder seiner Landtagsgruppe wichtig: „Wir sind eher die Generalisten, weil wir nicht so viele sind.“ Das SSW-Trio müsse sich den Themen immer ein Stück weit von oben nähern, sich immer wieder fragen: „Was ist eigentlich die große Botschaft, die irgendwo dahintersteckt?“ Harms selbst deckt eine Vielzahl von Fachbereichen ab. So ist er zuständig für Haushaltsplanung, Finanzen, Inneres und Recht sowie Datenschutz. Es gibt neun ständige Ausschüsse und weitere für begrenzte Zeiträume, wie etwa der Untersuchungsausschuss. Harms ist Mitglied in acht Ausschüssen und einer Arbeitsgruppe, für vier weitere Ausschüsse wird er als Stellvertreter genannt. Zum Vergleich: Der CDU-Abgeordnete und Vorsitzende der größten Fraktion, Tobias Koch, ist Mitglied in vier Ausschüssen und Stellvertreter für einen Ausschuss.

Harms schätzt den erweiterten Blickwinkel, den er als Generalist einnehmen kann: „Andere, die nur Verkehrspolitik machen und nicht auch noch Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik, denen geht es nur noch um Autos, Fahrräder, Schiffe und Flugzeuge, aber nicht mehr um die Frage, wie werden die Menschen entlohnt, die diese Fahrzeuge steuern. Wie ist das mit den Verkehrswegen? Wie ist das mit der Wirtschaft? Da haben wir einen etwas größeren Blick drauf.“

„Rüm hart – klaar kiming“

Der altfriesische Wahlspruch „Rüm hart – klaar kiming“ bringt die Haltung des SSW auf den Punkt. Er bedeutet übersetzt „weites Herz – klarer Horizont“. Die Botschaft: Andere nicht aus dem Blick verlieren, aber sein Ziel klar vor Augen behalten. Diese Losung erlaubt friesischen Kapitänen, denen der Spruch zugeschrieben wird, aber durchaus, auch mal den Kurs zu wechseln. So wie Lars Harms es vor zwanzig Jahren getan hat. In seinem ersten Beruf hat der Diplom-Betriebswirt gut zehn Jahre lang die Touristeninformation in Heide geleitet.

Etwa zeitgleich, Anfang der Neunzigerjahre, hat er dann begonnen, sich kommunalpolitisch beim SSW zu engagieren. Seit er im Jahr 2000 in den Landtag einziehen konnte, ist Harms Berufspolitiker. Seine Motivation zieht er aus seinen Wurzeln. „Ich bin von Haus aus Friese, spreche auch Friesisch. Man möchte seine eigenen Leute vertreten, seine eigene Region, seine Heimat.“ Als „widlufti“ bezeichnet Harms sich selbst: „Das ist jemand, der mit einer breiten Erfahrung aus der Vogelperspektive drauf schaut, der andere erst mal anhört und sich dann seine Meinung bildet.“ Diese dann auch deutlich zu sagen, das ist typisch für Harms – und für Harms typisch friesisch: „Lieber klare Kante – da komme ich viel besser voran als mit dem ewigen Rumgeeiere.“

Die klare Kante, an der sich der SSW orientiert, ist ein ausgeprägter Pragmatismus. „Der SSW entscheidet sich nach gesundem Menschenverstand, währenddessen sich alle anderen nach Ideologien entscheiden“, so Harms. Damit meint er, dass die übrigen Parteien jeweils für ein spezifisches Menschenbild stehen. Die SPD sei davon überzeugt, dass jeder, der in Not gerät, dabei unterstützt werden soll, Verantwortung für sein Leben zu übernehmen. Die FDP glaube dagegen, dass jeder Mensch fähig ist, sich selbst zu helfen. Manchmal sei Ideologie darum auch gut, räumt Harms ein. „Dann weiß man, wo eine Partei steht“, erklärt er. Gesunder Menschenverstand sei aber oft „ein bisschen näher an der Bevölkerung“, ist er sich sicher.

Kulinarische Eskalationsskala

10:00 Uhr. Sitzungszimmer 122 im Landtag. Der Finanzausschuss tagt in der Regel einmal pro Woche. Er kontrolliert unter anderem, wie der aktuelle Haushaltsplan von der Regierung umgesetzt wird. So auch heute mit Lars Harms. Der Haushalt ist eines der wichtigsten Themen, das den Landtag jedes Jahr aufs Neue beschäftigt. Das Etat- oder Haushaltsrecht wird oft als das „Königsrecht“ des Parlaments bezeichnet. Die Abgeordneten haben eine wichtige Kontrollmöglichkeit gegenüber der Regierung – denn die muss detailliert offenlegen, welche Ausgaben sie plant. Jede davon muss über den Haushaltsplan vom Parlament bewilligt werden.

12:00 Uhr. Lars Harms’ Büro im Landtag. Das Mittagessen lässt er heute ausfallen. Denn als Landtagsabgeordneter bekommt er bei vielen Veranstaltungen etwas zum Essen angeboten. Kekse, Schnittchen, Grünkohl lautet die kulinarische Eskalationsskala, die einem Landtagsabgeordneten in seinem Berufsalltag regelmäßig begegnet. Die Büros des SSW liegen im Landtag auf dem gleichen Flur wie die einiger SPD-Abgeordneter. Mitunter vertreten beide Fraktionen ähnliche Positionen, denn auch für den SSW ist soziale Gerechtigkeit ein großes Thema.

Der Friese schätzt klare Forderungen

Der Traum von einem Urlaub oder einem eigenen Haus müsse auch für Normalverdiener erreichbar sein, betont Harms. „Der Mindestlohn ist auch so ein Klassiker. Der ist viel zu niedrig in Deutschland, der müsste mindestens bei zwölf Euro liegen“, sagt er mit Nachdruck. Davon seien etwa auch seine Kinder überzeugt. Neben Fragen der sozialen Gerechtigkeit diskutiert er mit ihnen vor allem Themen wie Klimawandel und Nachhaltigkeit. „Wie kriegen wir es hin, dass das Leben hier in einhundert Jahren auch noch lebenswert ist?“, fasst Harms zusammen. Das sei eine neue Sicht der Dinge.

Früher habe man kurzfristiger gedacht. „Junge Menschen sind in ihren Ideen viel radikaler als Erwachsene. Sie fordern konkrete Vorgaben zu machen, wie Wirtschaft sich entwickeln soll, wie Landwirtschaft sich entwickeln soll.“ Es könne nicht angehen, dass in der Landwirtschaft Produkte produziert würden auf der Basis von irgendwelchen Unkrautvernichtungsmitteln, die schädlich sein könnten. Harms: „Wir würden nie auf die Idee kommen, einem Tischler zu erlauben, für einen Tisch einen Lack zu nehmen, der krebserregend ist. Aber bei der Produktion von Lebensmitteln haben wir das. Verbietet das!“ Klare Forderungen, wie der Friese sie schätzt: „Das ist gut, dass wir manchmal so einen kleinen Tritt in den Allerwertesten bekommen.“

Mit allen per Du

14:00 Uhr. Besprechungsraum des SSW im Landtag. Einmal in der Woche findet die Fraktionssitzung statt, die eigentlich Landtagsgruppen-Sitzung heißen müsste. Denn: Der SSW hatte das letzte Mal von 2009 bis 2012 Fraktionsstatus, als er durch vier Abgeordnete im Landtag vertreten wurde. Unterschreiten gewählte Abgeordnete einer Partei diese Mandatszahl, können sie formal keine Fraktion bilden. Dem SSW als Minderheitenvertretungen werden aber trotzdem die parlamentarischen Rechte einer Fraktion zugestanden. Als Vertreter einer Minderheit unterliegt der SSW auch nicht der Fünf-Prozent-Hürde und zog nach der letzten Landtagswahl mit drei Mandatsträgern in den Landtag ein.

Den Namen „Fraktionssitzung“ hat die selbstbewusste Landtagsgruppe für ihre internen Besprechungen beibehalten. Zu diesem regelmäßigen Termin bringen die drei Abgeordneten und sieben Mitarbeiter einmal pro Woche aktuelle Probleme auf den Tisch und entwickeln gemeinsam politische Positionen und Lösungen. Die Stimmung sei freundlich, unterstützend, konstruktiv. Alle Mitarbeiter haben das gleiche Rederecht wie die Abgeordneten. Das sei nicht in allen Fraktionen so. „Wir haben eine ganz flache Hierarchie“, sagt Harms. Er ist mit allen per Du.

Wertvolle Arbeit hinter den Kulissen

Einen eigenen Referenten hat er als Vorsitzender nicht: „Es ist nicht so, dass jeder Mitarbeiter nur seinem eigenen Abgeordneten zuarbeitet.“ Eine gewisse Zuordnung sei durch die Fachbereiche aber dennoch möglich: „Die Abgeordneten haben gewisse Bereiche, für die sie zuständig sind. Das ist bei den Mitarbeitern genauso. Es geht nach Interessen der Mitarbeiter, nach Ausbildung der Mitarbeiter und ist nach Fachbereichen aufgeteilt.“ Das Referententeam leistet wertvolle Arbeit hinter den Kulissen, während die Abgeordneten den gemeinsam erarbeiteten Positionen ein Gesicht geben und den Kontakt zu den Menschen halten: „Wenn ich bei einer Podiumsdiskussion an einer Schule bin, dann kann ich nicht auch noch recherchieren. Dann muss ich mich um die Leute kümmern, die da sind“, so Harms.

Recherchieren, vorformulieren, rumtelefonieren – das gehört zu den Kernaufgaben eines Referenten. Die Mitarbeiter des SSW sprechen neben Deutsch alle Dänisch oder Friesisch. „Das ist wichtig, damit sie sich mit den Organisationen, die uns nahestehen, unterhalten können.“ Schließlich sei Sprache für die hiesigen Friesen und Dänen ein wichtiges Merkmal ihrer Identität, „so, wie manch einer bei einem Fußballspiel mit der deutschen Flagge wedelt“, sagt Fußball-Fan Harms, dessen Herz für den HSV schlägt.

„Es gibt keinen Standardtag“

16:00 Uhr. Lars Harms’ Büro im Landtag. Heute verbringt der Abgeordnete vergleichsweise viel Zeit im Büro an seinem großen Schreibtisch. Über ihm hängt ein dreiteiliges Abendpanorama seiner Heimatstadt Husum in dunklen Blautönen. Die Schreibarbeiten erledigt er mit hoher Konzentration. Konzentriert zu arbeiten und flüssig formulieren zu können, das findet Harms für die Arbeit als Abgeordneter wichtig: „Wir müssen hier Gesetze und Anträge formulieren. Und die können natürlich nur gut laufen, wenn sie auch in einem guten Deutsch geschrieben sind“, betont er.

Doch sein Arbeitsalltag besteht nicht vorrangig aus Schreibarbeit. „Es gibt keinen Standardtag. Das ist wild durcheinander.“ Die Herausforderung sei darum, sich gut zu organisieren. „Die wichtigste Fähigkeit ist, strukturiert zu arbeiten, zu wissen, was zuerst kommen muss und was vielleicht noch Zeit hat.“

Oft ist er als Abgeordneter auch im Land unterwegs. Die Außentermine sind vielfältig – Besuche in Schulen, Gespräche mit Vertretern von Institutionen, Podiumsdiskussionen, Besuche vor Ort, um sich Probleme von Bürgern anzusehen. Oft auch kurzfristig. Als Abgeordneter ist Harms immer und überall auf Empfang, auch in seiner ohnehin raren Freizeit. Angesprochen werde er „ständig, egal ob ich im Supermarkt bin, spazieren gehe oder auf dem Sportplatz ein Fußballspiel gucke“. Lars Harms nimmt sich gerne die Zeit für den direkten Austausch. „Klar, schnacken wir mal drüber“, lautet dann meist seine Antwort. „Wer das nicht mag, wer seinen Feierabend liebt, für den ist Landtagsabgeordneter nichts.“

In die Politik? – „Immer“

18:00 Uhr. Vor dem Landeshaus. Die Dämmerung bricht über den Landtag herein. Heute wird es für Harms wieder spät werden, denn es geht noch zu einem Grünkohl-Essen in seinem Heimatort. Beim Warten auf den Fahrer bleibt Zeit für eine letzte Frage. Ob er jungen Menschen empfehlen würde, in die Politik zu gehen? „Immer. Ich habe noch nie einen Job gemacht, der so vielfältig war, der jeden Tag etwas Neues bietet.“

Lars Harms steigt in seinen Dienstwagen. „Wer seinen Feierabend liebt, für den ist Landtagsabgeordneter nichts“ – dieser Satz des SSW-Chefs hallt nach, während die dunkle Limousine sanft Richtung Husum davongleitet.

Nadine Otte