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2. Oktober 2020 – Tag der Deutschen Einheit

Rückblick auf 30 Jahre geeintes Deutschland

Wie hat sich das vereinte Deutschland in den vergangenen 30 Jahren entwickelt? Was lief gut? Was muss besser werden? Landtagspräsident Klaus Schlie und die Fraktionsvorsitzenden legen ihre Sicht dar – mit gemischter Bilanz.

Eine Collage mit sechs Bildern, zu sehen sind: Landtagspräsident Klaus Schlie und die Fraktionsvorsitzenden Tobias Koch (CDU), Ralf Stegner (SPD), Eka von Kalben (Grüne), Christopher Vogt (FDP) und Lars Harms (SSW).
Landtagspräsident Klaus Schlie (oben l.) und die Fraktionsvorsitzenden Tobias Koch (CDU, oben Mitte), Ralf Stegner (SPD, oben r.), Eka von Kalben (Grüne, unten l.), Christopher Vogt (FDP, unten Mitte) und Lars Harms (SSW, unten r.) blicken zurück. Fotos: Michael August, Thomas Eisenkrätzer

„Deutschland ist den europäischen Werten verpflichtet“

 

Klaus Schlie auf dem Präsidentenplatz im Plenarsaal
Landtagspräsident Klaus Schlie Foto: Michael August

„Wenn ich heute, dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung, die Rede meiner Amtsvorgängerin Lianne Paulina-Mürl lese, dann fällt mir auf, wie aktuell viele ihrer damals gestellten Fragen auch heute noch sind. Zu Merkmalen einer gemeinsamen, gesamtdeutschen Identität fällt neueren Umfrage zufolge immer noch vielen Bürgerinnen und Bürgern wenig ein – ganz gleich, ob im Osten oder Westen. Die Mahnung der Landtagspräsidentin, den Menschen in den neuen Bundesländern nicht das Gefühl von Unterlegenheit und des ‚Ausgeliefertseins‘ zu geben, hallen heute in vielen aktuellen Debatten immer noch nach. Zugleich aber weiß ich um die sehr dynamische und positive Entwicklung der letzten Jahrzehnte. Die deutsche Einheit wurde nicht über Nacht auch in den Köpfen der Menschen Realität – aber sie ist eben auch keine Utopie geblieben. Gerade für die jüngeren Deutschen, die nach 1989/90 geboren wurden, ist die Debatte um das Zusammenwachsen von Ost und West heute kaum mehr verständlich. Für diese mobile, weltoffene und politisch engagierte Generation ist das ganze Deutschland als Teil Europas eine Selbstverständlichkeit geworden. Gerade diese schon von Lianne Paulina-Mürl zu Recht hergestellte Verbindung zwischen deutscher und europäischer Einheit ist es, an der wir heute stärker als zuvor weiterarbeiten müssen. Die europäischen Werte von Freiheit und Demokratie bewegten die Menschen in der DDR zu ihrem mutigen Handeln 1989 und unsere europäischen Nachbarn zur Zustimmung zur Wiedervereinigung. Deutschland ist diesen Werten und dem einigen Europa deshalb ganz besonders verpflichtet.“

„Selbstverständlicher gegenseitiger Respekt“

 

Der CDU-Fraktionsvorsitzende Tobias Koch hält eine Rede im Plenarsaal des Landtages.
Tobias Koch (CDU) Foto: Michael August

„Die damalige Landtagspräsidentin Lianne Paulina-Mürl brachte es auf den Punkt: Es werde viel Zeit brauchen, bis die Deutschen richtig zueinander finden würden, und 40 Jahre Teilung hätten mehr Entfremdung bewirkt, als im Jubel des 9. Novembers 1989 zu ahnen gewesen sei. Das kann man sicher heute noch bestätigen, 30 Jahre später. Und doch sind die Spuren der innerdeutschen Grenze längst verschwommen, kaum mehr wahrnehmbar – besonders in der gemeinsamen Bundeshauptstadt Berlin, aber auch in den ehemaligen Grenzgebieten. Für die nachgewachsenen Generationen gibt es die ‚Mauer‘ nicht mehr. Die Vorstellung, dass es eine solche einmal gegeben hat, erscheint ihnen zu Recht absurd. Mein damaliger Vorgänger als Fraktionschef der CDU, Heiko Hoffmann, zeigte sich dankbar, dass mit der Wiedervereinigung das Ziel erreicht wurde, wie es das Grundgesetz in seiner Präambel stets vorsah. 1990 wurde Einheit und Freiheit des deutschen Volkes in freier Selbstbestimmung vollzogen. Viele hatten längst nicht mehr daran geglaubt. In den meisten Köpfen ist die Einheit angekommen. Chancen, die sich daraus ergeben, werden genutzt. Die Zeiten von Arroganz oder Gefühlen der Minderwertigkeit sind längst einem selbstverständlichen und gegenseitigen Respekt gewichen. Der 30. Jahrestag ist eine gute Gelegenheit, auf diesen Erfolg eindringlich hinzuweisen. Angesichts wiedererstarkter Unzufriedenheit in Teilen der Bevölkerung kann nicht deutlich genug betont werden, welch ein Gewinn die Ereignisse des Jahres 1989 waren, die in der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 mündeten. Es war ein Sieg der Demokratie, der friedenssichernd für gemeinsames Europa war. Das gilt es zu erhalten.“

„Gegen westdeutsche Überheblichkeit“

 

Der Fraktionsvorsitzende der SPD, Ralf Stegner, steht im Plenarsaal des Landtages am Redepult und hält eine Rede.
Ralf Stegner (SPD) Foto: Thomas Eisenkrätzer

„Vermutlich war ich einer der ersten Westdeutschen, die von der schicksalsträchtigen Pressekonferenz Günter Schabowskis Notiz nahmen. Denn am späten Nachmittag des 9. November 1989 hängte mein Schwiegervater in meiner Wohnung Lampen auf, und ich zeigte ihm, dass ich auf unserem TV-Gerät auch das DDR-Fernsehen empfangen konnte. Es sollte dann noch einige Stunden dauern, bis uns die Bedeutung des zufällig live Gesehenen so richtig bewusst wurde und wir im Westfernsehen die Bilder der Autoschlangen und jubelnden Menschen sahen. Der Mauerfall war für mich immer weniger eine Errungenschaft von Ronald Reagan, Helmut Kohl oder gar David Hasselfoff, sondern in erster Linie das Verdienst der aufrechten Menschen in der DDR, die für ihre Überzeugung trotz hohen persönlichen Risikos auf die Straße gegangen sind. Im Rückblick gehören leider auch viele von diesen Menschen zu denjenigen, deren Lebensleistungen nach der Wiedervereinigung zu wenig wertgeschätzt wurden, oder die von den gravierenden Verwerfungen wie Arbeitslosigkeit und Biographie-Brüchen betroffen waren. Aus westdeutscher Perspektive vergessen wir bei aller positiven Gesamtbilanz oft, wie wenig sich durch den Mauerfall für viele im Alltag auf der einen Seite der ehemaligen Grenze änderte und wie viel auf der anderen. Darum kann ich bis heute mit westdeutscher Überheblichkeit oder mangelnder Solidarität zu noch immer strukturschwachen Regionen in den neuen Bundesländern überhaupt nichts anfangen.“

„Wir sind noch lange nicht auf Augenhöhe“

 

Eka von Kalben (Grüne) am Rednerpult
Eka von Kalben (Grüne) Foto: Landtag, Thomas Eisenkrätzer

„Vor 30 Jahren habe ich mit gemischten Gefühlen auf die Wiedervereinigung geschaut. Als Tochter von Eltern, die nach dem Zweiten Weltkrieg von ihrer Heimat in Sachsen-Anhalt nur träumten, aber dort nicht leben konnten, bin ich natürlich von klein auf mit dem Thema aufgewachsen. Gleichzeitig kannte ich durch unsere Freunde in der DDR auch viele Menschen, die sich das Ende ihrer Revolution anders gewünscht hätten – keine reine Eingliederung in die Bundesrepublik, sondern die Würdigung ihres Lebenswerkes bei gleichzeitiger Aufarbeitung des geschehenen Unrechts in der DDR. Noch heute prägt uns, dass wir kein wirkliches Verhältnis auf Augenhöhe haben. Die Bundesländer im Osten werden vor allem wahrgenommen, wenn es ein Problem gibt: mit der Demokratie, mit der Aufnahme von Geflüchteten. Die Überheblichkeit des Westens, wie man sie auch zum Teil aus den Reden der Landespolitiker aus dem Jahr 1990 lesen kann, ist noch nicht ganz vorbei. Deshalb braucht es meines Erachtens einen Blick auf das Positive. Ich denke hier neben dem ganz Offensichtlichen – wie dem Wegfall der innerdeutschen Grenze – zum Beispiel an die aufblühenden Universitätsstädte, den florierenden Tourismus in Mecklenburg-Vorpommern und die aufstrebende Kulturszene. Die Debatte um das Wort „Unrechtsstaat“ hilft uns nicht. Wichtiger ist, dass wir unsere Demokratie und unseren Rechtsstaat positiv vermitteln und lebendig machen. In zehn Jahren sind wir genauso lange wieder vereint, wie wir getrennt waren. Dann möchte ich, dass wir am besten gar nicht mehr die Einheit Deutschlands betrachten, sondern die Einheit Europas feiern können.“

„Mehr Stolz auf das Erreichte“

 

Der FDP-Fraktionsvorsitzende Christopher Vogt hält eine Rede im Plenarsaal des Landtages.
Christopher Vogt (FDP) Foto: Michael August

„Die deutsche Wiedervereinigung, mit der ja auch ein neues Kapitel für Europa einherging, ist allen Unkenrufen und Problemen zum Trotz eine Erfolgsgeschichte. Auch nach 30 Jahren muss man aber feststellen, dass die ‚Mauer in den Köpfen‘ teilweise noch vorhanden ist und es noch immer nennenswerte strukturelle Unterschiede wirtschaftlicher, politischer und zum Teil auch kultureller Art zwischen unseren Landesteilen in Ost und West gibt. Die Zwischenbilanz zeigt aber auch eine enorme Kraftanstrengung sehr vieler Menschen, vor allem in Ostdeutschland. Natürlich wurden auf dem Weg auch Fehler gemacht, schließlich gab es für diesen Prozess keine wirklichen Erfahrungswerte. Anstatt immer nur über Missstände zu schimpfen, sollten wir verstärkt Verständnis dafür zeigen, dass eine unterschiedliche Geschichte auch unterschiedliche Prägungen bei den Menschen bedeutet. Wir sollten gemeinsam mehr Stolz für das Erreichte entwickeln und uns neue Ziele setzen. Dazu gehört für mich auch, dass es sowohl in West- als auch in Ostdeutschland Regionen gibt, die bei der Entwicklung von Infrastruktur und Wirtschaftsstruktur mehr Unterstützung brauchen. Unsere Gesellschaft, welche auch die politische Landschaft beinhaltet, wird insgesamt pluralistischer. Damit werden die kulturellen Unterschiede nicht zwingend größer, aber zumindest sichtbarer. Wir brauchen deshalb eine stärkere Betonung des hohen Wertes von Demokratie, Rechtsstaat und Sozialer Marktwirtschaft, die eben nicht selbstverständlich, aber zwingend für unsere Freiheit sind.“

„Neue Impulse in der Minderheitenpolitik“

 

Der Vorsitzende des SSW im Landtag, Lars Harms, hält eine Rede im Plenarsaal des Schleswig-Holsteinischen Landtages.
Lars Harms (SSW) Foto: Michael August

„Es ist tatsächlich zusammengewachsen, was zusammengehört, und Deutschland hat seine neue Stellung als wiedervereinigter Staat genutzt, um auf der internationalen Bühne eine weithin anerkannte Vermittlerrolle zu übernehmen. Die größte Errungenschaft ist und bleibt, dass alle Menschen in Deutschland in Freiheit und wir als Gesellschaft in Wohlstand leben können. Trotz aller Schwierigkeiten ist uns der wirtschaftliche Anschluss der ehemaligen DDR gelungen, wenn man die heutige Lage dort mit der von anderen ehemaligen Ostblockstaaten vergleicht. Das ist eine hervorragende Leistung der Menschen in Ost und West. Sorgen machen muss uns, dass nicht alle Menschen seit der Wiedervereinigung ein uneingeschränkt positives Verhältnis zu Freiheit, Demokratie und Menschenrechten entwickelt haben. Der zunehmende Rechtsextremismus ist eine der großen Herausforderungen der nächsten Jahre, vor der wir als Gesamtgesellschaft stehen. In der Minderheitenpolitik haben wir viel voneinander lernen können. Die Sorben erhielten schon 1990 eine Stiftung in Sachsen und Brandenburg, deren Pendent für die Friesen erst im Jahr 2020 errichtet werden konnte. Auch beim Thema Zweisprachigkeit in der Öffentlichkeit, gab es sehr viele Anregungen durch die sorbische Minderheit – die Themen zweisprachige Beschilderung, Friesischgesetz oder Minderheiten- und Regionalsprachen in der Verwaltung hätten es sonst viel schwerer bei uns gehabt. Andererseits haben die Sorben in Ostdeutschland immer mehr auch unsere Vorstellungen übernommen, dass Minderheitenkulturen auch ein Teil der Gesamtkultur einer Region sind und dass man sich nicht separieren kann und soll. Es gibt also einen lebenden Austausch zwischen Ost und West, und das ist doch das eigentlich großartige an der Entwicklung der letzten 30 Jahre.“

Für weitere Infos: Das 30-jährige Jubiläum der Deutschen Einheit steht auch im Mittelpunkt der aktuellen Ausgabe von „Der Landtag“.