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Landesverfassung darf nicht zu einer vergoldeten Absichtserklärung verkommen
PRESSEINFORMATION Kiel, d. 12.01.2000 Es gilt das gesprochene WortRede anläßlich des 50jährigen Jubiläums der LandessatzungDer dänische Philosoph Søren Kierkegaard hat sinngemäß gesagt, es sei das Los des Menschen,aus Erfahrung zu lernen, aber in der Zukunft zu leben. Dieses Wort kann man nicht zuletzt aufdie Politik beziehen, besonders auf die Verfassungsgesetzgebung, bei der es darum geht, diegrundlegenden Maßstäbe zukünftigen Zusammenlebens festzulegen. Nirgendwo sonst in derParlamentsarbeit wird so deutlich, dass die Vorstellungen von der Zukunft darauf bauen, welcheErfahrungen man in der Vergangenheit gemacht hat. In der Landesverfassung spiegeln sichviele verschiedene Facetten der Geschichte und Kultur unseres Landes. Seien es nun die stürmi-schen Zeiten im deutsch-dänischen Grenzland, das Schicksal der Weimarer Republik, die Erfah-rung von Unrecht, Totalitarismus und Menschenverachtung im nationalsozialistischenDeutschland oder die Kieler Affäre: Sie alle haben Spuren hinterlassen, weil versucht wurde, fürdie Zukunft zu lernen.Die erste Landessatzung für Schleswig-Holstein war maßgeblich davon geprägt, dass man nichtan den Fortbestand des Landes Schleswig-Holstein glaubte. Trotz dieser Vorläufigkeit - die inder Wahl des Begriffes Satzung und der eher spartanischen Ausgestaltung zum Ausdruck kam -blieb diese Verfassung in ihren Grundzügen vier Jahrzehnte in Kraft und wurde bis 1985 nur 7Mal geändert. Es scheint, als sei das Leben mit dieser relativ einfachen und minimalistischen 2Landessatzung verhältnismäßig leicht gewesen. Eine Tatsache, die sicherlich entscheidend da-durch unterstützt wurde, dass eine Partei über Jahrzehnte hinweg regierte. Das Parlament hattesich mehrheitlich offensichtlich damit abgefunden, ein Unterstützungsapparat für eine macht-volle Regierung zu sein - und die Opposition hatte sowieso nichts zu melden.Das relativ niedrige Ambitionsniveau wurde mit der Verfassung von 1990 gebrochen. Vor dem Hin-tergrund der gesellschaftlichen Entwicklung, der parlamentarischen Erfahrungen der letzten Jahr-zehnte und den Affären der späten 80er Jahren wurden neue Staatszielbestimmungen aufgenommen,es wurden neue Formen der direkteren Demokratie eingeführt und das Parlament reklamierte fürsich eine stärkere Rolle im Verhältnis zur Regierung. Obwohl es formal nur um eine Novellierungder Landessatzung ging, wurde im Konsens eine grundlegend neue Verfassung geschaffen. Die Er-fahrungen der letzten 10 Jahre haben dabei gezeigt, dass aus dieser neuen, umfassenderen Form derLandesverfassung auch neue Problemstellungen folgten, auf die wir in Zukunft reagieren werdenmüssen, wenn diese obersten Leitlinien unseren politischen Tuns nicht zu verfassungsrechtlich ver-goldeten Absichtserklärungen verkommen sollen .Ein besonderes Merkmal der 1990er Landesverfassung war, dass den Politikerinnen und Politike-rinnen im Landtag mehr Verantwortung zukam. Das Parlament nahm sich in einer wirklichenSternstunde des Parlaments ein Stück der Macht zurück, die die Regierungsfraktionen über lan-ge Jahre hinweg vergeben hatte. Damit folgten aber auch Verpflichtungen. Wie sind diese neuenRechte und Pflichten, wie ist dieses neue Selbstverständnis genutzt worden? Ist es wirklich so,wie Kurt Hamer 1990 in einem Kommentar zur neuen Verfassung meinte, dass Abgeordnete derRegierungsfraktionen jetzt nicht in erster Linie Übermittler froher Regierungsbotschaften sind?Dass Oppositionspolitiker jetzt nicht mehr allein Kritiker der Mehrheit und Regierung sind? Dassdie Abgeordneten stattdessen als Mittler zwischen Bürger und Parlament auftreten? Ich bin mir danicht ganz so sicher. Der Landtag hat mit der Verfassung von 1990 nicht nur mehr Rechte bekom- 3men, ihm sind auch erhebliche Kontrollpflichten auferlegt worden. Werden diese wirklich so wahr-genommen? Überwachen die Regierungsfraktionen mir Argusaugen, was die Regierung macht? Ar-beitet die Opposition konstruktiv mit und erarbeitet sie echte Alternativen zur Regierung - zum Bei-spiel im Haushaltsbereich? Zweifel scheinen angebracht. Die hehren Ziele der Verfassung drohenvielfach auf der Strecke zu bleiben, weil die Probleme der Vergangenheit im „politischen All-tag“ keine Rolle spielen. Schlechte Erfahrungen, die den Verfassungsnormen zugrunde liegen,werden verdrängt oder geraten im Alltagsgeschäft in Vergessenheit.Die Grenzen der neuen Verfassung treten aber nicht nur deutlich zutage, wenn man die „neue Rol-le“ des Parlaments ansieht. Sie kommen auch dann zum Ausdruck, wenn es um verfassungspoliti-sche Zielsetzungen geht, wie Schutz und Förderung von Minderheiten oder die Umsetzung der grö-ßeren Mitbestimmung der Bürgerinnen und Bürger. Auch hier scheint der politische Alltag nochnicht die rechten Mittel und Wege gefunden zu haben, mit den Normen der Verfassung umzugehen.Die Minderheitenpolitik macht die Beschränkungen der Verfassung deutlich. Denn so weihevoll dieReden klingen, wenn Kolleginnen und Kolleginnen hier aus dem Landtag und aus der Regierung beiFestveranstaltungen über den Artikel 5 der Landesverfassung sprechen, so steinig ist auch der Weg,wenn es um mehr als die ideelle Unterstützung geht. Insofern beschreibt die Verfassung als Ergeb-nis der Erfahrungen aus der Vergangenheit immer noch weitgehend die angestrebte Zukunft. Staats-zielbestimmung lautet hier das Zauberwort, und jene, die von diesen Zielsetzungen des Staates un-mittelbar betroffen sind, fragen sich manchmal, ob dieses Ziel wirklich aktiv angestrebt wird; oderob es eher darum geht, Ansprüche der Gegenwart in verfassungsrechtliches Gold zu gießen, um sieruhig zu stellen. Staatszielbestimmungen sind allgemeine Zielvorgaben, die der Gesetzgeber maß-geblich für sich selbst aufstellt. Es ist am Parlament, diese abstrakten Normen ohne konkrete recht-liche Bindungswirkung auch in alltäglich handhabbares Recht umzusetzen, das in konkreten Einzel-fällen greift. Eine derart konsequente Umsetzung steht noch aus. 4Andere Grenzen tun sich auf, wenn es um die plebiszitären Elemente geht. Das hat sich in den letz-ten Monaten besonders schmerzlich gezeigt, als es darum ging, die Entscheidung zu fällen, wie wirmit dem Volksentscheid zur Rechtschreibreform umgehen sollten. Ich denke gerade, wir, die ausParteien kommen, die offensiv für solche neuen Demokratieformen eingetreten sind, haben sehrgroße Skrupel gehabt, die Entscheidung wieder zu ändern. Hier zeigt sich ein Spannungsverhältniszwischen Parlament und direkter Mitbestimmung, das unbedingt aufgelöst werden muss, um Scha-den von der Demokratie abzuwenden. Der 15. Schleswig-Holsteinische Landtag wird sich intensivmit dieser Frage auseinandersetzen müssen.Durch diese wenigen - nach persönlichen Vorlieben ausgewählten - Beispiele dürfte deutlich ge-worden ist, dass die Anforderungen an die Politik durch die anspruchsvollere Verfassungsgesetzge-bung gestiegen sind. Soll eine moderne Verfassung mit vielfältigeren Staatszielen, direkteren De-mokratieformen und einem starken Parlament wirklich „gelebt“ werden, dann erfordert es mehrkonkretes Handeln im parlamentarischen Alltag und eine laufende Anpassung an die Realitäten.Die Kraft, diese hohen Ansprüche unserer Verfassung zu erfüllen, kann sich nur daraus speisen,dass ihre geschichtlichen Ursachen und Hintergründe uns gegenwärtig bleiben. Das erfordert zu-nehmend mehr Anstrengungen, denn die meisten Abgeordnete haben die Schrecken des Kriegesnicht selbst „in den Knochen sitzen“; immer mehr von uns haben die Kieler Affäre nur als Zuschau-er erlebt; und auch die Zahl derer nimmt ab, die sich noch daran erinnern können, dass der Friedezwischen Mehrheit und Minderheit im Grenzland nicht selbstverständlich ist, sondern höchst vor-aussetzungsvoll. Um den Geist der Verfassung wirklich erkennen und leben zu können, müssen wirdie prägende Ereignisse der Vorzeit lebendig halten und die Erinnerungen vor den nur allzumenschlichen Kräften des Vergessens und der Verdrängung schützen. Sicherlich verlangt es uns zu-sätzliche Anstrengungen ab, sich diese Geschichte lebendig zu erhalten und an nachfolgende Gene- 5rationen weiterzugeben. Aber es lohnt sich, denn es ist eine gute Landesverfassung, die mit Lebenerfüllt werden soll.