Diese Webseite verwendet ausschließlich für die Funktionen der Website zwingend erforderliche Cookies.

Datenschutzerklärung

14.12.00 , 10:54 Uhr
SPD

Friedrich-Carl Wodarz zu TOP 2, 17 und 18: BSE (Bovine Spongiforme Enzephalopathie)

Sozialdemokratischer Informationsbrief


Landtag Kiel, 14.12.00
aktuell Es gilt das gesprochene Wort! Sperrfrist: Redebeginn



Friedrich-Carl Wodarz zu TOP 2, 17 und 18:

BSE (Bovine Spongiforme Enzephalopathie)
„Wenn der Ochse direkt Fleisch fressen würde, würde er verrückt werden.“ Diesen Satz soll Rudolf Steiner schon 1923 gesagt haben. Welch eine Aktualität!

Ich will es uns ersparen, über die mögliche Entstehung und die Übertragungswege zu spekulieren. Wir haben zu diesem Phänomen keine gesicherten Erkenntnisse. Wir können es beschreiben, wir können es bestimmen, wir stellen Vermutungen über die Übertragungswege an, wir kennen nicht einmal das richtige Ausmaß dieser Katastro- phe, die im Kern eine tiefe Vertrauenskrise der Bevölkerung in die Zuverlässigkeit der Nahrungsmittel darstellt.

Die Ministerpräsidentin hat den chronologischen Ablauf geschildert. An dieser Stelle möchte ich der Ministerpräsidentin, der Ministerin Franzen und dem Minister Müller für das professionelle Krisenmanagement danken. Die Regierung hat zielgerichtet und sachorientiert gehandelt und jede Hysterie vermieden. Zu überdenken ist allerdings aus meiner Sicht, ob die Kompetenzaufteilung weiterhin sinnvoll ist.

Es scheint ziemlich sicher , dass ein Übertragungsweg mit BSE-Erregern kontaminier- tes Tiermehl ist. Wir vermuten, dass die Krankheit durch Mutation von Scrapieerregern oder durch direkte Mutation bei einzelnen erkrankten Rindern entstanden ist. Abgese-
Schleswig- Holstein

Herausgeber: SPD-Landtagsfraktion Verantwortlich: Petra Bräutigam Landeshaus Postfach 7121, 24171 Kiel Tel: 0431/ 988-1305/1307 Fax: 0431/ 988-1308 E-Mail: pressestelle@spd.ltsh.de Internet: www.spd.ltsh.de SPD -2-



hen von den katastrophalen Folgen haben wir hier m. E. ethische Grenzen überschrit- ten, indem man Pflanzenfressern Fleisch ins Futter gemischt hat.
Tiermehlverfütterung an Hühner oder Schweine hat aus dieser Sicht einen anderen Stellenwert.

BSE ist als Thema seit Jahren durchaus nichts Neues. Man kannte das Problem in den Grundzügen, man wusste von der tödlichen Bedrohung, man verdrängte es aber lieber nach England und – diesen Vorwurf kann ich sehr breit streuen – man erklärte sich mit einer unverständlichen Ignoranz zur BSE-freien Zone.

Die ständigen Beteuerungen, in Deutschland sei alles anders, hielten uns von vernünf- tigen präventiven Maßnahmen ab und gaukelten den Verbrauchern eine Pseudosi- cherheit vor, für die heute ein ganzer Wirtschaftszweig bitter bezahlen muss. Die Ver- unsicherung und das Misstrauen der Verbraucher sind von grundlegender und sicher- lich sehr nachhaltiger Natur.

Für die SPD-Fraktion hat der Schutz der Verbraucher vor Schlampereien und kriminel- len Machenschaften absoluten Vorrang. Ich wiederhole in diesem Zusammenhang die Aussagen von Lothar Hay von gestern: Wir wollen weder die Initiative zur Verbesse- rung der Lebensmittel aus Schleswig-Holstein unter dem Gütesiegelzeichen in Frage stellen, noch die Arbeit der Verbraucherzentrale einstellen. Was wir aber einfordern, ist eine Mitverantwortung der Nahrungsmittelindustrie, die ihre Marketingkonzepte selber finanzieren muss.

Verbraucheraufklärung wird nicht durch die Vielzahl von Beratungsstellen qualitativ besser. Wir erwarten hier mehr Effektivität und Bündelung der Ressourcen.

Lassen sie mich wieder direkt auf die BSE-Vertrauenskrise eingehen. Das Verfütte- rungsverbot von Tiermehl ist eine richtige Maßnahme; die zeitliche Begrenzung Un- sinn. -3-



Es reicht aber aus meiner Sicht nicht, wenn ab sofort alle Rinder, die älter als 30 Mo- nate sind, auf BSE getestet werden. Diese 30-Monatsfrist ist ein rein technischer Wert, der eine größere Wahrscheinlichkeit von Ergebnissen erwarten lässt, sich an den La- borkapazitäten und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen orientiert.

Wir wissen, dass mit den derzeitigen Testmethoden eine gewisse Dichte an Prionen vorhanden sein muss, um überhaupt einen Nachweis führen zu können. Ein Beweis für einen Nichtbefall ist das aber keineswegs. Es ist auch Fakt, dass bereits jüngere Rinder befallen waren, und mit den negativen Tests z. B. bei Kälbern ist überhaupt nichts über eine BSE-Freiheit gesagt, bestenfalls über die Dichte der eventuell vor- handenen Prionen. Deshalb fordern wir, dass in Zukunft alle geschlachteten Rinder getestet werden, was ja interessanterweise von einigen Verarbeitungsbetrieben bereits praktiziert wird, zumal wir davon ausgehen, dass bald bessere Tests entwickelt wer- den. Dazu bedarf es einer verstärkten Forschung, und es wäre wirklich besser, Sub- ventionsgelder in diesen Bereich zu stecken.

Die Zufütterung von tierischem Eiweiß ist ethisch unterschiedlich zu betrachten. Fleischkonsum gehört durchaus auf den natürlichen Speiseplan eines Huhnes, nur hat die Vergangenheit gezeigt, dass hier oft nicht das deklarierte Futter in der Futterkrippe landete, sondern angefangen von einem Sammelsurium kranker Tiere über Altöl bis Klärschlamm – ein Futter, das noch zusätzlich mit Antibiotika und Leistungsförderern angereichert ist.

Natürlich sind das z. T. kriminelle Machenschaften, aber die Form der industriellen Fut- termittelherstellung macht doch diese Machenschaften erst möglich. Viele Landwirte wissen überhaupt nicht was sie ihren Tieren da als Futter anbieten. Unter der Rubrik „kriminelle Machenschaften“ ordne ich auch die aktuellen Vorgänge an holländischen Schlachthöfen ein, die durch Reimporte die deutschen Kontrollmechanismen umgehen und erneut zu einer Verunsicherung der Verbraucher beitragen. -4-



Diese Leute haben ein Vorurteil bestätigt, und ich möchte an dieser Stelle mit einem anderen Vorurteil aufräumen. In meinen Augen hat BSE eine ganze Menge mit Massentierhaltung zu tun – allerdings nicht in diesem Falle. In Schleswig-Holstein haben wir eine durchschnittliche Bestandsgröße von ca. 60 Rin- dern. Der mittelständische Betrieb ist die Regel. Der Betrieb in Hörsten war ein sol- cher. Darin liegt aber auch die Chance, denn diese Betriebe sind flexibel, qualifiziert geführt und können sich auf eine andere Fütterungsmethode einstellen.

Wir haben in Schleswig-Holstein die besten Voraussetzungen für eine Neuorientierung in der Land- und Ernährungswirtschaft. Man muss es nur wollen – seitens der Praxis und der Theorie. Ich fordere in diesem Zusammenhang auch ein anderes intellektuel- les Klima an unseren landwirtschaftlichen Ausbildungsstätten. Seit Jahren wird in der schulischen und universitären Ausbildung den Landwirten betriebswirtschaftliches Produzieren gelehrt. Dagegen ist nichts einzuwenden. Bedenklich ist nur, wenn man industrielle Produktionsweisen unkritisch auf ein Handeln mit Lebewesen und der Na- tur überträgt.

Landwirte, die Tiere als Geschöpfe ansehen und ihnen wenigstens etwas Würde durch artgerechte Haltung lassen und den Boden nicht bis auf den letzten Zipfel und mit allen machbaren Mitteln ausbeuten, sind keine Spinner. Die Querelen im Vorfeld der Ein- richtung des ökologischen Landbaus auf dem Lindhof kann als Beleg gewertet werden, wie wenig einige Entscheidungsträger bereit sind, sich neuen Perspektiven zu öffnen.

Ich fordere einen offenen Dialog zum Wohle unserer Umwelt, einer gesunden Ernäh- rung und einer zukunftsfähigen Ernährungswirtschaft in unserem Lande. Ich will auch hervorheben, dass es sehr viele sogenannter konventioneller Landwirte gibt, die sich den o. a. Forderungen verpflichtet fühlen und den Dialog aufgeschlossen führen.

Wir befinden uns in einer Krise, die nicht durch Verbote oder Einrichtung von Entschä- digungsfonds zu bewältigen ist. Die Landwirtschaft und die Ernährungswirtschaft ste- -5-



cken tief in einer Sackgasse. Wie tief, das zeigt die Tatsache, dass es uns wahrschein- lich gar nicht möglich sein wird, in kürzester Frist unbedenkliches Futter bereitzustel- len.

Solange es aber den Verbrauchern und der Politik egal ist, wie unsere Schlachttiere gehalten und ernährt werden und solange die Verbraucher sich nur an dem niedrigen Preis orientieren, wird sich hier nichts ändern. Wenn heute die Verbraucher das Rind- fleisch meiden und dafür auf billiges Geflügelfleisch ausweichen, ist das die falsche Al- ternative, denn man unterstützt weiterhin die massenhafte und tierquälerische Produk- tion von billigem Puten- und Hähnchenfleisch. Wer bereit ist, für 3,98 DM pro Kilo Hähnchen zu essen, muss wissen, dass diese Tiere weder artgerecht gefüttert noch gehalten worden sind.

Auch die Verbraucher können und dürfen sich nicht aus der Verantwortung stehlen. Zur Lösung der BSE-Krise brauchen wir einen neuen gesellschaftlichen Konsens, un- ter welchen Bedingungen wir uns ernähren wollen und wie wir mit unseren Mitge- schöpfen und der Natur umgehen. Und solange die Devise gilt: „Erst der Mensch und dann die Natur“ und nicht begriffen wird, dass der Mensch ein Teil und damit abhängig von der Natur ist, werden wir die nächste Krise ins Haus bekommen.

Natürlich brauchen wir Substitute für das weggefallene Tiermehl. Sojaschrot bietet sich an, und der größte Sojalieferant, die USA, produzieren zu 80 % gentechnisch verän- dertes Soja. Wie naiv technikgläubig muss man sein, um das als Ausweg zu sehen! Um es klarzustellen: Ich bin kein Gegner der Biotechnologie und sehe durchaus sinn- volle Anwendungen der Gentechnologie, neben den medizinischen Anwendungen auch in der Nahrungsmittelproduktion. Allerdings können das nur ganz spezielle Berei- che sein, die Produkte müssen klar deklariert sein und es darf nicht zu einem massen- haften, nicht mehr nachvollziehbaren Einsatz kommen, der nur großen Agrarchemie- konzernen einen riesigen Marktanteil sichert. -6-



Mittlerweile kennen wir BSE als Krankheit schon lange. Bis heute hat die Wissenschaft keine Wege gefunden, diese Krankheit zu heilen, und schon machen wir uns auf einen neuen risikobeladenen Weg, mit Genfood, zum Profit einiger Weniger. Die natürlich gezüchteten Pflanzen (z. B. auch heimische wie Raps, Mais, Bohnen, Erbsen, Lupi- nen) bringen genügend Erträge, um den Eiweißbedarf in der Fütterung zu decken. Das Problem ist nur: z. Z. gibt es in Europa nicht genügend Eiweißfutter. (Bis Ende 2001 gilt nach dem Blair-House Abkommen eine Anbaubeschränkung der Europäer für Ölsaaten.) Auch ich weiß, dass dieser Eiweißbedarf kurzfristig mit heimischen Futtermitteln schwer zu decken sein wird. Gentechnisch verändertes Futter darf aber nicht die Alternative werden.

Ich sagte eingangs, dass wir unsere Forschungsanstrengungen in Sachen BSE inten- sivieren müssen. Das gilt aber für diese tückische Krankheit insgesamt. Bislang star- ben Creutzfeld-Jacob-Patienten unbemerkt. Die allgemeine Verunsicherung hat ihnen eine ungewollte Aufmerksamkeit beschert. Hoffen wir, dass die Forschung hier nun endlich einen „Markt“ entdeckt hat.

Wir haben im Agrarausschuss erfahren können, welche Auswirkungen die derzeitige Krise auf die Tierkörperbeseitigungsanstalten hat. Ich betone ausdrücklich, diese Be- triebe sind aus seuchenhygienischen Gründen unverzichtbar und dürfen nicht in den wirtschaftlichen Ruin getrieben werden. Doch sind wir uns in dieser Frage auch alle ei- nig, und die Regierung handelt sehr flexibel und verantwortungsbewusst. Das bloße Verbrennen von Tiermehl in MVA erscheint mir aber nur eine momentane Notlösung. Es gibt intelligentere Lösungen. Die angedachte energetische Verwertung wird eine davon sein, bedarf aber eines gewissen Vorlaufes und sorgfältiger Begleitung, um eine hygienische Sicherheit zu garantieren.

Als völlig unsinnig sehe ich die zeitliche Begrenzung der Tiermehlverfütterung an. Wie soll denn ein Verwertungsbetrieb für einen solchen Zeitraum eine Zukunftsinvestition tätigen? Wir wollen klare und zukunftsorientierte Rahmenbedingungen. -7-



Die SPD-Fraktion fordert ein eindeutiges und unbegrenztes Fütterungsverbot für Tier- mehl. Über die sogenannte „Rauskaufaktion“ fällt mir nicht mehr ein als „Wahnsinn“. Dieses Geld fehlt uns in der Ursachenforschung!

Der Verbraucherschutz muss in den Vordergrund gestellt werden, und dazu bedarf es einer lückenlosen Verbraucherinformation. Ich halte den Weg, den die Handelskette Edeka gegangen ist, für richtig. Natürlich kann z. Z. niemand eine 100 %-ige Sicherheit für BSE-Freiheit geben. Dennoch sind vertrauensbildende Maßnahmen möglich: Um- fassende Produktinformation, lückenlose Zurückverfolgbarkeit , was eine Einzelzerle- gung jedes Rindes voraussetzt. (Und ich wiederhole: Wenn genmanipuliertes Futter drin ist, muss es auch auf dem Etikett stehen.)

Wir sind uns in den Vorgesprächen mit der Opposition weitgehend einig geworden, und ich möchte auch diese Einigkeit hervorheben. Gerade weil die SPD-Fraktion der Ansicht ist, dass wir dringend zu einer Wende in der Land- und Ernährungswirtschaft kommen müssen, bedarf es in dieser Frage auch eines breiten Konsenses. Wir wer- den uns in der Zukunft mehr als bisher bei der Projektförderung daran orientieren, ob diese den Ansprüchen einer umwelt- und tiergerechten Landwirtschaft gerecht werden.

Bauernverbandspräsident Sonnleitener hat bislang keine Visionen aufgezeigt, um ei- nen Ausweg aus der Krise zu finden. Bei ihm vernehme ich in jedem zweiten Satz Begriffe wie „Entschädigung“, „Ausgleichszahlungen“ und die „EU hat Schuld“. Das ist orientierungsloses „Weiter so“. Wir wollen den betroffenen Landwirten und anderen durch die BSE-Krise in Bedrängnis geratenen Betrieben helfen. Europa und die Bun- desregierung haben dazu auch ihre Bereitschaft erklärt. Eine Dauersubventionierung lehnen wir aber ab.

Wir sollten zusätzliche Gelder in die bereits geforderte Forschung und in Maßnahmen stecken, die zu einer verbraucherfreundlichen, gesunden und umweltverträglichen Land- und Ernährungswirtschaft führen. -8-



Wir fordern eine grundlegende Neuorientierung der EU-Agrarwirtschaft. Heute fördert Brüssel nach wie vor mit 50 % des Haushaltes nicht die Qualität, sondern die Quantität von Agrarerzeugnissen. Masse statt Klasse ist dort noch immer die Devise. Die Milliar- dengelder, die als „Marktordnungsausgaben“ der Überschussverwaltung und - beseitigung dienen, sollten lieber in eine Landwirtschaftsreform fließen, die Nachhal- tigkeit, Umweltverträglichkeit und artgerechte Tierproduktion als Zielvorstellung hat.

Eine Ökologisierung der Landwirtschaft führt nicht zu Hungerkatastrophen, eher das Gegenteil wird der Fall sein, und der ländliche Raum hätte seine Zukunft nicht nur in Callcentern und Chipfabriken. Agrobusiness in der jetzigen Form darf nicht länger die Vision der Zukunft sein.

Dazu bedarf es keiner ideologischen Grabenkämpfe. Der konventionelle Landbau ist nicht per se schlecht und Ökolandbau nicht per se gut. Es wäre richtig , wenn auch die entsprechenden Verbände in einen Dialog eintreten würden. Die SPD-Fraktion ist gern bereit, auch hier Gesprächspartner oder Moderator zu sein. Wir fordern auch die Landwirtschaftskammer auf, diesen Dialog fachlich und weniger voreingenommen zu begleiten und zu unterstützen.

Es gibt keinen Grund, in der derzeitigen Situation in Hysterie zu verfallen. Augenmaß ist angesagt. Augen-zu wurde allerdings zu lange praktiziert.

Download PDF

Pressefilter

Zurücksetzen