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Juergen Weber zu TOP 23a PISA
Sozialdemokratischer InformationsbriefJürgen Weber zu TOP 23a: Ergebnisse des Leistungsvergleichsstudie PISADeutschland hat ein neues Megathema, und dieses Megathema heißt PISA. Wenige Jahre nach der TIMSS-Studie haben wir jetzt von der OECD ein Zeugnis erhalten, wo- nach unser Schulsystem in allen Leistungsfächern irgendwo zwischen knapp ausrei- chend und ungenügend abschneidet. Die Botschaften sind: Fast ein Viertel der Schüler durchlaufen unser Schulsystem, ohne die Fähigkeit zu er- werben, Texte zu lesen und auch zu verstehen, fast 10 Prozent bleiben faktisch Anal- phabeten. Und mindestens genauso schlimm: 42 Prozent der befragten 15-jährigen gaben an, das Lesen allenfalls als lästige Pflicht zu empfinden und niemals zum Ver- gnügen ein Buch in die Hand zu nehmen.In den mathematischen Leistungen ist der Abstand vom OECD-Mittelwert zwar etwas geringer, und auch die USA liegen nur knapp vor dem Wert Deutschlands. Aber dies darf uns nicht beruhigen. Für den naturwissenschaftlichen Bereich sieht es noch un- günstiger aus. Über ein Viertel der Schüler verfügt bestenfalls über die Minimalqualifi- kationen in diesem Bereich.Nahezu kein anderes Land produziert so extreme Leistungsbandbreiten wie das deut- sche Schulwesen. Kein Schulsystem konserviert soziale Unterschiede so stark wie das unsere. Und nicht zuletzt: Die Integration von Kindern nicht deutscher Muttersprache in unser Bildungssystem hat versagt. Nicht mehr die katholische Bauerntochter ist der Paradefall einer Risikobiographie, sondern der 15-jährige türkische Junge.Von Notstand und Bildungskatastrophe ist öffentlich die Rede, und der PISA- Koordinator der OECD wird mit dem Satz zitiert, ein Viertel der deutschen Schüler werde den Anschluss an das Leben, an die Herausforderungen in Familie, Beruf und Schleswig- Gesellschaft wahrscheinlich nicht schaffen. HolsteinHerausgeber: SPD-Landtagsfraktion Verantwortlich: Petra Bräutigam Landeshaus Postfach 7121, 24171 Kiel Tel: 0431/ 988-1305/1307 Fax: 0431/ 988-1308 E-Mail: pressestelle@spd.ltsh.de Internet: www.spd.ltsh.de SPD -2-Ich will mich in diesen Panikwettlauf nicht einreihen. Aber wenn nicht jeder von uns al- le Anstrengungen unternimmt, um eine zukunftsfähige Bildung unserer Kinder zu si- chern, wird man uns dafür eines Tages zur Rechenschaft ziehen und das auch zu Recht.PISA ist nicht die erste internationale Vergleichstudie. Aber sie ist auf jeden Fall ein deutlicher Schritt nach vorn. Warum? Mehr als ihre Vorgänger versucht PISA, fächerübergreifende Kompetenzen zu erfassen. Es geht bei PISA um die Anwendung von Wissen und Fertigkeiten in au- ßerschulischen Situationen und um kritisches Urteilen und weniger um das Abfragen von Fachwissen. PISA beinhaltet eine nachvollziehbare Kontexterfassung, unter der Schule stattfindet – so vor allem Rahmenbedingungen wie die Sozialstruktur der Schü- lerschaft.Vor diesem Hintergrund kann und darf es keine Ausreden und Ausflüchte und auch kein Ausweichen auf Nebenkriegsschauplätze geben. Sicher hat ein Land wie wir mit einem Ausländeranteil von 10 Prozent eine weitaus größere Herausforderung zu be- wältigen als das erfolgreiche Finnland mit gerade einmal zwei Prozent. Aber: Nicht einmal Kanzlerkandidaten in spe für die nächste und die übernächste Bundestagswahl sollten dieses Thema als Streitaxt in der Zuwanderungsdebatte missbrauchen und so tun, als seien die Ausländer wie ein Heuschreckenschwarm über unser Land gekom- men. Es ist unsere Verantwortung, sowohl den zugezogenen als auch den hier gebo- renen Kindern jede Chance zu bieten, die auch ihre Altersgenossen deutscher Natio- nalität haben.Ich will gerne unterstreichen, was andere bereits gesagt haben: Es geht nicht um die Fortsetzung der alten schulpolitischen Grabenkämpfe. Aber das heißt nun gewiss nicht, dass wir uns auf einen Grundkonsens auf der Basis konservativer Bildungsideo- logie leisten können und wollen. PISA belegt unzweideutig, dass das deutsche Schul- wesen in Organisation und Lernkultur vor einem Scherbenhaufen sozialer Bildungsun- -3-gerechtigkeit steht. Der Handlungsbedarf ist enormIch möchte deswegen noch einige weitere Punkte besonders beleuchten. Wer sich die Ergebnisse der einzelnen Fragen näher anschaut, wird feststellen, dass deutsche Schüler viele Fragen nicht beantworten konnten, weil sie die Fragen in ihrer Komplexität überhaupt nicht verstanden haben. Offenbar haben wir also nicht nur, viel- leicht sogar eher weniger, ein Problem mit dem Umfang des vermittelten Lernstoffs. Wir haben offenbar ein sehr großes Problem damit, wie Wissen in unseren Schulen vermittelt wird. Andere Beispiele zeigen, dass bei Kreativitätsaufgaben deutsche Schü- ler deswegen Probleme haben, weil Dinge gefordert werden, die bei uns in keinem Lehrplan stehen.Für mich stellt sich die Frage, ob wir nicht mehr über Unterrichtsformen, Fächerkanon und Lehrerqualifizierung nachdenken müssen, als uns über Schulzeitdauer und Schul- arten den Kopf zu zerbrechen.Der Ertrag von Schule rückt mit PISA in den Mittelpunkt des Interesses. Was in unse- rer Dienstleistungsgesellschaft - mittlerweile auch im öffentlichen Bereich - selbstver- ständlich ist oder wird, fehlt an den Schulen weitgehend: Stichwort Controlling. Schüler erhalten Noten und Zeugnisse; aber darüber hinaus wissen wir zu wenig, was und wie an Schulen konkret geleistet wird.Vor uns steht die Regionalisierung der Daten. Und es steht zu erwarten, dass die deutschen Provinzfürsten darüber zu streiten beginnen werden, wessen Verdienst die etwas weniger schlechten Schulen unter den miserablen sind.Eine Bemerkung am Rande aus gegebenem Anlass: Es ist ziemlich dumme Polemik, zu unterstellen, wir würden weder von den Schulen, noch von den Lehrern, noch von den Schülerinnen und Schülern Leistung erwarten. Das Gegenteil ist der Fall. Leistung heißt aber gerade nicht Selektion bei jeder Gelegenheit. Wer möglichst schon ab dem ersten oder zweiten Grundschuljahr Ziffernnoten fordert, kann sich auf PISA jedenfalls -4-nicht berufen. Fast alle Staaten, die weit besser als Deutschland abgeschnitten haben, erteilen in ihren Schule erst wesentlich später Noten.Es ist an der Zeit, die Herausforderung von PISA anzunehmen und die Dinge jetzt in den Vordergrund zu stellen, an die wir positiv anknüpfen können. Dazu zählt ohne Frage die Verstärkung von Ganztagsschulen und -angeboten. Über eines besteht in der bisherigen Debatte nahezu Einigkeit: Die Vormittagsschule von 7.45 Uhr bis 13.00 Uhr gehört der Vergangenheit an. Wir werden im kommenden Schuljahr die Ganz- tagsangebote ausweiten müssen, und wir werden das schneller tun müssen, als es ur- sprünglich geplant war.Manche Erfahrungen anderer europäischer Länder wie Schweden und Finnland schei- nen unabweisbar, z.B. dass wir viel stärker als bisher unsere Mittel im Grundschulbe- reich konzentrieren müssen, z.B. dass gerade den ersten Bildungsjahren, vor allem im Bereich der Sprachqualifika- tion, entscheidende Bedeutung zukommt, und z.B., dass es keinen sachlichen Grund dafür gibt, die Kinder mit 10 Jahren auf Schulen mit unterschiedlichen Leistungsprofilen zu sondern, wobei diese grundlegen- de Entscheidung nur in die Richtung nach unten korrigierbar ist.Vieles wird noch heftig diskutiert werden, auf jeden Fall aber ernsthaft zur Kenntnis genommen werden müssen: z.B. die Early Excellence Centers mit ganzheitlichen För- derkonzepten für Vorschulkinder, die die Labour-Regierung in Großbritannien mit Er- folg aufgebaut hat, und z.B. dass die jetzigen kultusföderalen Strukturen kein Naturge- setz sein müssen.Die Setzung von Standards und die Evaluation der Schulen müssen Kernaufgaben des Staates bleiben. Warum kann die Umsetzung dieser Standards einschließlich des Einsatzes des zugehörigen Personals und der finanziellen und sächlichen Mittel nicht soweit wie möglich den Schulen überlassen bleiben ? -5-Wenn es unsere Perspektive ist, dass die Schule für die Schüler und Lehrer zum Le- bensort wird, an dem man sich gern aufhält, und nicht eine lästige Pflichtveranstaltung, deren Ende man mit der Stoppuhr in der Hand herbeisehnt, dann braucht es mehr als ein bildungspolitisches Reformprojekt.Jeder von uns weiß, wie schwer gerade grundsätzliche Änderungen im Bildungsbe- reich durchzusetzen sind, aus dem einfachen Grunde, weil der größte Teil der Bevöl- kerung davon direkt betroffen ist. Deshalb muss die Politik auch vordergründig unbe- queme Schritte gehen, wenn wir sie für notwendig halten.Ich erinnere mich dabei an die Schulgesetznovelle von 1998. Der Referentenentwurf sah vor, dass das Stichdatum für die Schulpflicht um drei Monate verschoben werden sollte. Ein auch von der Opposition angefachter Sturm zog über das Land, und man hätte manchmal meinen können, wir planten eine Neuauflage des Bethlehemitischen Kindermordes, wenn Sie mir diese vorweihnachtliche Anspielung gestatten.Selbstkritisch muss ich anmerken, dass wir diesen Konflikt letztlich gescheut haben, weil uns andere Dinge in der Schulgesetznovelle wichtiger waren. Wir haben damit ei- nen der zahlreichen Sonderwege des deutschen Schulwesens zementiert, nämlich den späten Einstieg in die Bildungslaufbahn.Niemand kommt ungeschoren an PISA vorbei: nicht wir Politiker nicht die Lehrer nicht die Eltern nicht unsere ganze Gesellschaft. Die Einsicht ist nicht neu. Es kommt jetzt darauf an, zu handeln.