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19.06.02 , 10:42 Uhr
SSW

Kommunalverfassung: Schwerkranker wird mit Pflaster geheilt

Südschleswigscher Wählerverband Schleswig-Holsteinischer Landtag im Schleswig-Holsteinischen Landtag Düsternbrooker Weg 70 D - 24105 Kiel Tel. (0431) 988 13 80 Fax (0431) 988 13 82

PRESSEINFORMATION SSW-Landtagsvertretung Norderstr. 74 D – 24939 Flensburg Tel. (0461) 14 40 83 00 Fax (0461) 14 40 83 05

Kiel, d. 19.06.2002 Silke Hinrichsen Es gilt das gesprochene Wort
„Die beschlossene Änderung der Kommunalverfassung ist der Versuch, einen Schwerkranken mit einem Pflaster zu heilen.“

TOP 2 Änderung des kommunalen Verfassungsrechts (Drs. 15/657, 15/1424, 15/1425, 15/1908) TOP 55 Reform des Gemeinde- und Kreiswahlrechts (Drs. 15/966, 15/1909)

Die Kommunen sind die Keimzelle einer lebendigen Demokratie. Im Rahmen der kommunalen
Selbstverwaltung bestimmen die Menschen, wie ihre nächste Umgebung aussehen soll. Dort im Alltag
lernen schon die jungen Bürgerinnen und Bürger, was demokratische Teilhabe heißt. Deshalb haben
wir alle ein Interesse daran, dass die Demokratie in Gemeinden, Städten und Kreisen gute Wachstums-
bedingungen hat.


Der Landtag bereitet den Boden. Es ist unsere Aufgabe, die Rahmenbedingungen für die kommunale
Demokratie zu setzen. Wir entscheiden, wie die Aufgaben und die Entscheidungskompetenzen in den
Kommunen verteilt sind. Wir bestimmen, wie effektiv die Verwaltungen arbeiten können und wie viel
Einfluss die Kommunalpolitikerinnen und -politiker haben. Obwohl die meisten Bürgerinnen und
Bürger vermutlich nicht einmal wissen, was das kommunale Verfassungsrecht ist, tragen wir damit
eine große Verantwortung für die Erhaltung und Weiterentwicklung der Demokratie in unserem Land.



Internet: http://www.ssw-sh.de; e-mail:info@ssw-sh.de Der SSW ist sehr unzufrieden mit dem bestehenden kommunalen Verfassungsrecht. Denn mit der
Reform von 1996 wurde ein Systemwechsel durchgeführt, der die bürgernahe Demokratie eher
geschwächt hat. Damals entschied sich der Landtag für eine Reform der Kommunalverfassung, die
zuerst den Verwaltungsleiter stärkte, um eine effektive und effiziente Verwaltung unserer Kommunen
zu ermöglichen.

Diese Reform hat zu einem problematischen Machtgefälle zwischen Verwaltung und Politik geführt,
und nicht zuletzt deshalb hat der Landtag ja auch dieses Thema wieder aufgegriffen. Das kam bereits
im ersten Gesetzentwurf der CDU zum Ausdruck. Nach mittlerweile fast zwei Jahren der Ausschuss-
arbeit in Enquetekommission und Sonderausschuss müssen wir aber leider feststellen, dass die Lösung
nicht geglückt ist. Denn an den grundlegenden Problemen wird nicht gerüttelt.


Der Gesetzentwurf wird das gespannte und falsche Verhältnis
von Hauptamt und Ehrenamt nicht verbessern.
Kern der neuen Kommunalverfassung von 1996 war und ist eine grundlegende Änderung der Macht-
verhältnisse in den Kommunen. Um ein besseres Management der Städte, Gemeinden und Kreise zu
ermöglichen, wurde die Rolle der Verwaltungsspitze gestärkt. Die hauptamtlichen Bürgermeister und
Landräte wurden zum Machtzentrum der kommunalen Demokratie ausgebaut. Die gleichzeitig einge-
führte direkte Wahl durch die Bevölkerung sollten ihnen die demokratische Legitimation für weit-
gehende Entscheidungsbefugnisse verleihen. Die Reform bescherte ihnen neben der Verantwortung
für die Umsetzung der Beschlüsse der Gemeindevertretung noch die Möglichkeit einer eigene politi-
schen Amtsführung. Damit schwächte man aber gleichzeitig die Rolle der ehrenamtlichen Politiker-
innen und Politiker, in dem das System der kollegialen Verwaltungsleitung aufgelöst wurde.

Die Folge dieser Entwicklung ist nicht zu übersehen: Die Kommunalpolitiker haben zunehmend weni-
ger Entscheidungs- und Handlungsspielraum und sind überfordert. Sie sollen als „Aufsichtsrat“ der
Verwaltung agieren, der im Rahmen des Berichtswesens Soll-/Ist-Vergleiche anstellt. Damit werden
demokratisch engagierte Menschen zu Controllern der Verwaltung umgeschult. Das ist nicht jeder-
manns Vorstellung von ehrenamtlichem politischem Engagement für die kommunale Gemeinschaft.

Internet: http://www.ssw-sh.de; e-mail:info@ssw-sh.de Deshalb ist es kaum verwunderlich, dass es unter den Gemeindevertreterinnen und -vertretern nicht
besonders viele Freunde der Kommunalverfassung gibt. Die Mehrheit des Landtages hat aber aber-
mals entschieden, nicht die eigene kommunalpolitische Basis zu stärken. Sie wertet offensichtlich ein
effektives Management der Bürgermeister und Landräte höher.

Denn wer das Ehrenamt wirklich stärken will, kommt um die Beschränkung der Kompetenzen der
Hauptamtlichen nicht herum. Die Machtposition der hauptamtlichen Bürgermeister und Landräte wird
aber durch die jetzt vorliegende Änderung der Gemeindeordnung nicht angetastet. Es wird lediglich
versucht, die ehrenamtlich tätigen Gemeindevertreterinnen und -vertreter mit Trostpflastern bei der
Stange zu halten: Sie erhalten mehr Einsichtsrechte aber kaum mehr Entscheidungsbefugnisse. Der
Hauptausschuss, der in den Beratungen eine zentrale Rolle spielte, kann mehr Aufgaben erhalten. Von
einer Stärkung des Ehrenamts kann aber insgesamt nicht die Rede sein, denn es werden lediglich
Kompetenzen innerhalb der ehrenamtlichen Vertretung verschoben. Die Aufgabenfülle der Hauptamt-
lichen bleibt grundlegend unangetastet. – Der Landesrechnungshof hätte im übrigen sogar gerne die
Position des Hauptamtlichen gestärkt, in dem dieser Vorsitzender des Hauptausschusses wird.

Wir halten nichts von den fragwürdigen Placebos zur Erhöhung der Freude am Ehrenamt. Der SSW
hat mit eigenen Gesetzentwürfen zur Kommunalverfassung wesentlich weitergehende Änderungen zur
Stärkung des politischen Ehrenamtes vorgebracht. Wir wünschen uns eine echte Kur für die
kommunale Demokratie. Im Zentrum unserer Überlegungen steht - nicht überraschend - die Abschaf-
fung der Direktwahl für Landräte und Bürgermeister.

Die Direktwahl ist 1996 als die große demokratische Revolution gefeiert worden, weil die
Bürgerinnen und Bürger jetzt direkt ihre Verwaltungsleitung wählen können. Das ist eben so simpel
wie falsch. Die Direktwahl mag die Verwaltungsführung straffen und schnellere Entscheidungen er-
möglichen. Aber demokratischer ist es nicht, wenn eine Person jahrelang politische relevante Be-
schlüsse trifft, über die früher ein ganzes Parlament mit verschiedenen Parteien zu entscheiden hatte.
Dies gilt umso mehr, als diese Personen in der Regel mit einer haarsträubend niedrigen Wahlbetei-
ligung gewählt werden. Unser Gesetzentwurf ist leider im Sonderausschuss abgelehnt worden.


Internet: http://www.ssw-sh.de; e-mail:info@ssw-sh.de Besonders ärgerlich ist es, dass zudem nicht einmal die Gelegenheit genutzt worden ist, das System
der Direktwahl zumindest dort zu verbessern, wo es geht. Zum Beispiel haben konkrete Fälle im Land
verdeutlicht, dass bei der Abwahl direkt gewählter Bürgermeister und Landräte erhebliche Probleme
bestehen. Es ist heute so, dass ein Bürgermeister mit 10prozentiger Wahlbeteiligung gewählt werden
kann, während für die Abwahl ungleich höhere Hürden bestehen.

Eine grundlegende Stärkung des gewählten Ehrenamtes findet mit der vorliegenden Änderung der
Kommunalverfassung nicht statt. Stattdessen erhalten bürgerschaftliche Mitglieder und Beiräte noch
ähnliche Rechte, wie die gewählten Vertreterinnen und Vertreter. Sie erhalten jetzt das Rede- und An-
tragsrecht in allen Sitzungen aller Ausschüsse. Das dürfte nicht nur das Verhältnis zwischen gewählten
und ernannten Mitgliedern in den Ausschüssen problematischer gestalten. Damit wird das auch Wäh-
lervotum ausgehöhlt.


Die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger in den Kommunen wurde
auch nicht wesentlich erweitert, obwohl die Praxis eben dieses verlangt.
Natürlich begrüßen wir, dass ab jetzt einmal jährlich eine Einwohnerversammlung durchgeführt wer-
den muss, um die Bürger und Bürgerinnen über die wichtigsten Belange der Gemeinde zu informieren.
Dies mag in kleinen Gemeinden nicht unbedingt immer erforderlich sein. Aber dieses Instrument der
Bürgerbeteiligung ist bislang zu häufig nicht genutzt worden. Deshalb ist die obligatorische Einwoh-
nerversammlung ein Fortschritt.

Positiv ist auch die Änderung des § 47f: Bisher „sollten“ Kommunen Kinder und Jugendliche an
Planungen beteiligen. Zukünftig „müssen“ sie es tun. Das unterstützen wir, denn Schleswig-Holstein
hat zwar die Nase vorn in Sachen Mitbestimmung, aber zu oft geht das kommunale Engagement nicht
über eine „Jugendratsversammlung“ hinaus. Das reicht nicht.

Es gibt noch einige weitere kleine Verbesserungen der Bürgerbeteiligung. Aber insgesamt reichen die
Änderungen nicht aus. Die Möglichkeiten für einen Bürgerentscheid werden nicht erweitert. Lediglich
die Quoren und die Darstellung der Argumente der Initiatoren von Volksinitiativen wurden geändert.
Nicht zuletzt vor dem Hintergrund unserer Debatte über Bürgerbegehren und Bürgerentscheide im
Internet: http://www.ssw-sh.de; e-mail:info@ssw-sh.de letzten Monat hätte man weiter springen müssen: zum Beispiel mit klareren und einheitlicheren
Regelungen der Bürgerbeteiligung, die auch die Bauleitplanungen umfassen.


Die Transparenz der Verwaltung und der
Kommunalpolitik ist nicht verbessert worden.
Wir brauchen aber Verwaltungen und Politiker die so offen mit ihren Aufgaben umgehen wie
möglich. Ein offener Umgang mit Informationen macht die Entscheidungen von Politik und Verwal-
tung transparent und nachvollziehbar, gibt den Bürgern bessere Möglichkeiten, sich aktiv einzu-
mischen und ist das beste Mittel gegen Korruption. Deshalb müssen z. B. Sitzungen der politischen
Gremien so weit wie möglich öffentlich abgehalten werden.
Leider ist die Chance zu Verbesserungen auf diesem Feld verpasst worden. Gemeinden können weiter-
hin beschließen, dass ihre Ausschüsse grundsätzlich nichtöffentlich tagen. Damit werden die Bürger
von vornherein von der Beobachtung des Entscheidungsprozesses ausgeschlossen. Wir hätten es lieber
gesehen, wenn die Gremienarbeit grundsätzlich öffentlich ist, und bei bestimmten Themen die Nicht-
öffentlichkeit einer Sitzung beschlossen wird – so wie wir es auch im Landtag handhaben. Hier ist
eine Chance vertan worden.


Die Regelungen für Kommunalwahlen wurden nicht geändert,
obwohl dieses längst überfällig ist.
Der Sonderausschuss hat sich in seiner wechselvollen Geschichte in dieser Legislaturperiode noch mit
weiteren Sachverhalten auseinandergesetzt. Hierzu zählte die Sperrklausel im Kommunalwahlrecht.
Aufgrund eines Antrags der FDP und vor dem Hintergrund einiger Urteile zur 5 % Sperrklausel disku-
tierte der Ausschuss eine Senkung oder gänzliche Abschaffung der Hürde. Dabei wurde deutlich, dass
die Vertreter von SPD und CDU keinerlei Veranlassung für eine Änderung sehen. Es zeugt wirklich
von der Arroganz der großen Parteien, dass der Kollege Puls die 5%-Hürde zum Bollwerk gegen
Anarchie und Extremismus hochstilisiert hat. Wir können dem entnehmen, dass nur die großen Volks-
parteien zu Stabilität und Demokratie in den Kommunen beitragen. Das ist eine maßlose Selbstüber-
schätzung und eine Beleidigung für viele politisch engagierte Bürgerinnen und Bürger.

Internet: http://www.ssw-sh.de; e-mail:info@ssw-sh.de Ähnliches gilt für die Diskussion über das Auszählverfahren bei Wahlen, zu dem bereits in der letzten
Tagung eine Entscheidung getroffen wurde. Es kann keinen Zweifel geben: Am meisten demokratisch
ist das Zählverfahren, welches das prozentuale Wahlergebnis am genauesten widerspiegelt. Deshalb
hat der SSW im Innen- und Rechtsausschuss beantragt, die Mandatsverteilung zukünftig nach dem
System Hare-Niemeyer statt nach dem d’Hondtschen Höchstzählverfahren vorzunehmen. Der Antrag
wurde im Sonderausschuss behandelt und abgelehnt. Die einzige plausible Begründung hierfür lautet,
dass die großen Parteien von der ungenaueren Auszählung nach d’Hondt profitieren.


Der Gesetzentwurf des Sonderausschusses zur Änderung der Kommunalverfassung bringt einige klei-
nere Verbesserungen, Verwaltungsvereinfachungen und redaktionelle Änderungen. Trotzdem wird
auch die neue Kommunalverfassung nicht den Anforderungen einer anwenderfreundlichen, gut les-
baren Gemeindeordnung gerecht.

Die zentralen Forderungen des SSW an eine neue Kommunalverfassung sind nicht erfüllt. Wer wirk-
lich etwas für einer bürgernahe Demokratie tun will, wer Menschen zu kommunalpolitischem Engage-
ment motivieren will, muss mehr tun: muss die direkte Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern
ausbauen, muss die Transparenz von Politik und Verwaltung herstellen, muss auch kleinen Parteien
oder Wählergruppen eine Chance geben und muss vor allem das Ehrenamt stärken.

Man kann aber nicht das Ehrenamt wirklich stärken, ohne den Entscheidungskompetenzen der haupt-
amtlichen Bürgermeister und Landräte deutlicher Grenzen zu setzen. Die vom Sonderausschuss be-
schlossene Änderung der Kommunalverfassung ist der Versuch, einen Schwerkranken mit einem Pfla-
ster zu heilen. Die bestehende Kommunalverfassung wird nicht verbessert. Die Ursache für dieses
Vorgehen dürfte nicht zuletzt darin zu finden sein, dass die Parteien immer noch die Absicherung ihrer
Machtposition in Gemeinden, Städte und Kreisen höher stellen als die kommunale Demokratie.
Leidtragende sind die Bürgerinnen und Bürger, die sich eine lebendige, bürgernahe Demokratie in den
Kommunen wünschen.

Der vorliegende Gesetzentwurf setzt konsequent die zentralen Fehler der geltenden Kommunalver-
fassung fort. Der SSW wird daher dagegen stimmen.
Internet: http://www.ssw-sh.de; e-mail:info@ssw-sh.de

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