Diese Webseite verwendet ausschließlich für die Funktionen der Website zwingend erforderliche Cookies.
Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen
PRESSEINFORMATION Kiel, d. 13.09.2002 Silke Hinrichsen Es gilt das gesprochene Wort„In unserer Gesellschaft muss der Vordereingang für die Menschen mit Behinderung erst noch geöffnet werden. Viel zu häufig werden sie nur über die Rampe am Lieferan- teneingang hereingelassen. Das wollen wir endlich ändern.“TOP 11 Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen (Drs. 15/2073)Als der Bundestag 1994 das Grundgesetz änderte, wurden daran hohe Erwartungengeknüpft. Die Verfassung sollte endlich den Menschen mit Behinderung ein Leben freivon Benachteiligungen ermöglichen. Die Erwartungen wurden aber enttäuscht. DieLandesregierung hat jetzt nach acht Jahren erfreulicherweise erkannt, dass sie auchselbst in Schleswig-Holstein mehr zur Erfüllung des grundgesetzlichen Gebotes bei-tragen kann. Den Menschen mit Behinderung soll durch konkrete Maßnahmen dieFührung eines selbstbestimmten Lebens und eine gleichberechtigte Teilhabe am ge-sellschaftlichen Geschehen ermöglicht werden.Behinderung ist nicht in erster Linie ein Mangel des Individuums. Behinderung ist invieler Hinsicht ein Konstruktionsfehler der Gesellschaft. Über 10 % der Menschen inDeutschland haben eine Behinderung. Das ist eine verdammt große Minderheit. Trotz-dem ist die Gesellschaft meist nur nach den Bedürfnissen der Menschen ohne Behin-derung konstruiert. 2Aus diesem Missverhältnis ist die Forderung nach Barrierefreiheit entstanden. Es gehtdarum, die Umwelt so einzurichten, dass sie für Menschen mit Behinderung zugäng-lich wird. Es muss möglich sein, ohne Hilfe Zugang zu Wohnungen, öffentlichen Ge-bäuden oder auch Naturgebiete zu erhalten – und zwar für alle. Jeder politische undgesellschaftliche Sektor muss die Verantwortung dafür übernehmen, in seinem eigenenHandlungsbereich Barrieren zu beseitigen und zukünftig möglichst von vornherein zuvermeiden.Bereits 1993 hat die UNO-Vollversammlung die sogenannten „Standard Rules“ be-schlossen. Nummer 5 dieser Rahmenregeln sieht vor, dass die Staaten Handlungspro-gramme für Barrierefreiheit einführen sollen. Ziel ist die physische Umwelt zugäng-lich zu machen und den Zugang zu Information und Kommunikation zu gewährleisten.Bis zum Jahr 2002 soll verhindert werden, dass bei Neubauten neue Barrieren entste-hen. Von 2002 bis 2007 sollen bestehende Barrieren beseitigt werden. In diesem Sinnekommen wir mit dem vorliegenden Gesetz auch in letzter Minute internationalen Ver-pflichtungen nach.Nach dem in einem ersten Schritt 1999 die Landesbauordnung geändert wurde, unter-nimmt Schleswig-Holstein mit dem Gleichstellungsgesetz jetzt einen weiteren überfäl-ligen Schritt in Richtung Barrierefreiheit. Zukünftig soll in öffentlichen Gebäuden eineGestaltung vermieden werden, wie sie in alten Behörden und Einrichtungen eher dieRegel ist: Der Zugang für Behinderte ist häufig nur über Hintertüren, Nebeneingänge,Rampen oder Treppenlifte möglich. Ohne Ortskenntnisse wird der Weg zum ge-wünschten Büro oder Raum zu einer Schnitzeljagd durch Kellergänge und gleichför- 3mige Behördenflure. Der Orientierungssinn wird auf eine harte Probe gestellt. Vonallgemeiner Zugänglichkeit kann da nicht die Rede sein.Bei Neubauten lässt sich schnell auf Barrierefreiheit umdenken. Es gibt schon entspre-chende DIN-Normen, die jeder Architekt im Schlaf kennen sollte. Die wirklichen Pro-bleme entstehen bei Altbauten, die umgestaltet werden müssen. Leider wird das Ge-setz hier keine schnelle Abhilfe schaffen, weil gleich mehrere Einschränkungen ge-macht werden: Nur bei großen Um- und Erweiterungsbauten besteht die Verpflichtungzur Barrierefreiheit. Zudem kann davon abgewichen werden, wenn es andere Lösun-gen gibt, die die Anforderung erfüllen, oder wenn die Anforderungen nur mit einemunverhältnismäßigen Kostenaufwand erfüllt werden können. Es bleibt zweifelhaft, obso das Ziel der Barrierefreiheit tatsächlich bis 2007 erreicht wird. Es ist unwahrschein-lich, dass an einer bedeutenden Zahl von Gebäuden überhaupt größere Umbauten statt-finden werden. Und bei denkmalgeschützten Häusern steht zudem ein Konflikt mithartnäckigen Denkmalschützern bevor. Angesichts dieser Probleme ist es erwägens-wert, ob wir nicht eine zeitliche Frist zur Erfüllung der Ziele in das Gesetz einbauensollen - oder ob dieses Gesetz nicht zumindest nach einer „Probezeit“ erneut auf dieTagesordnung gesetzt werden muss.Das Wort Barrierefreiheit lässt einen an dicke Mauern denken. Viele Hindernisse fürMenschen mit Behinderungen haben aber überhaupt nichts mit greifbaren Dingen wieGebäuden oder Bussen zu tun. Barrieren sind alles, was der selbstbestimmten Teilhabeam gesellschaftlichen Leben im Wege stehen. Zur Teilhabe gehört heute nicht zuletztdie Nutzung moderner Kommunikationsformen und Medien. Um Benachteiligungenzu beseitigen oder zu verhindern, muss der Zugang zu Fernsehen, Internet, Telefonie 4& Co. geöffnet werden. Gerade in diesem Bereich gibt es riesige Barrieren. Es gehtum Hilfen für die Nutzung von Kommunikations- und Informationsmedien. Aber esgeht auch um das Verständnis für Menschen mit kognitiven Einschränkungen. Zu-künftig muss mehr Wert auf Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit für Menschenmit Behinderung gelegt werden. Das verlangt nicht nur der Technik und den Medienetwas ab. Auch von den öffentlichen Verwaltungen wird erwartet, dass sie sich umVerständlichkeit bemühen, wenn sie mit Behinderten kommunizieren.Bei Behinderung und Kommunikation fällt vielen natürlich die Gebärdensprachendol-metscherin bei der Tageschau ein. Gerade im Bereich der Menschen mit eingeschränk-tem Gehör hat Deutschland lange einen höchst zweifelhaften Sonderweg beschritten.Gehörlose Kinder wurden lange Zeit gezwungen die Sprache der Hörenden von denLippen abzulesen. Ihnen wurde verwehrt eine eigene Sprache zu erlernen, in der sieohne Behinderung kommunizieren können. Deshalb ist es eine große Freude, dass mitdiesem Gesetz endlich die Gebärdensprache als eigenständige Sprache anerkannt wird.Leider gibt die praktische Umsetzung nicht ganz so viel Anlass zum Jubeln. Der Ge-brauch der Gebärdensprache im Zusammenhang mit konkreten verwaltungsmäßigenAufgaben wird eingeschränkt. Das Gesetz sieht vor, dass das Hinzuziehen eines Dol-metschers nicht notwendig ist, wenn eine schriftliche Verständigung möglich ist und/oder nur kurze Erklärungen abzugeben sind. Hier sind die Belange der öffentlichenVerwaltung gegenüber den Interessen der Betroffenen sehr stark gewichtet worden.Leider wird sich erst in der Praxis zeigen, ob dieses nicht die Teilhabe einschränkt.Meine Erfahrung als Juristin sagen mir, dass gerade die kurzen Erklärungen in derWirkung am weitest gehenden sind. Die schriftlichen Formulierungen stellen bereits 5viele gut hörende Menschen vor große Verständnisprobleme - PISA lässt grüßen -, wieist es dann erst, wenn man hörgeschädigt ist?Behinderung bedeutet zum einen, dass die Barrieren für Menschen mit Behinderungenabgebaut werden müssen, damit sie selbstbestimmt am Leben teilhaben können. Esgibt aber noch eine andere Seite der Medaille: Dort wo die Hindernisse nicht oder nurmit enormem Aufwand entfernt werden können, brauchen sie individuelle Hilfe, umdie Barrieren zu überwinden. Eben dies ist das Prinzip der persönlichen Assistenz, dieja in dieser Landtagstagung auf der Tagesordnung steht, auch wenn dazu nicht gespro-chen wird. Menschen mit Behinderung bekommen einen Helfer zur Seite gestellt, derihnen hilft, das zu tun, was sie müssen oder wollen. Wenn wir es erst meinen mit derBarrierefreiheit, dann müssen wir auch in diesem Bereich weiter kommen.Häufig ist es so, dass nichtbehinderte Menschen die Barrieren und die Benachteili-gungen erst gar nicht sehen. Deshalb benötigen Menschen mit Behinderungen die Un-terstützung von Personen, die die Welt mit ihren Augen sehen und für Abhilfe sorgenkönnen. Einer der wichtigsten Menschen in Schleswig-Holstein ist in diesem Zusam-menhang der Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderung. Er leistet eine enormeArbeit für die Betroffenen, die wir gar nicht hoch genug einschätzen können.Der Landesbeauftragte ist auch Gegenstand des neuen Gesetzes. Seine Stellung wirdabgesichert, so dass er weiterhin weisungsunabhängig bleibt. Außerdem soll der Be-auftragte möglichst selbst ein Mensch mit Behinderung sein, um eine besseres Ver-ständnis für diese Belange zu haben. Diese Forderung können wir unterstützen.Allerdings wäre es noch erwägenswert, ob der Beauftragte weiterhin in der Staatskanz-lei tätig sein soll. Wir sollten bei der weiteren Beratung wirklich in Betracht ziehen, ob 6es nicht besser wäre, diese Position beim Landtag anzubinden. Ich glaube es leuchtetein, dass die Berufung zu einer weisungsunabhängigen Stelle durch die Ministerpräsi-dentin und mit einem Büro in der Staatskanzlei einen Interessenkonflikt vorprogram-miert. Auch darüber müssen wir noch reden.Das Gleichstellungsgesetz hat viele positive Seiten und manche problematische As-pekte. Im Ausschuss werden wir die einzelnen Punkte in ihrer Ausgestaltung weiter-diskutieren. Der SSW begrüßt ausdrücklich die mit diesem Gesetz bestehende Absicht,den Menschen mit Behinderung in Schleswig-Holstein das Führen eines selbstbe-stimmten Lebens zu ermöglichen und eine gleichberechtigte Teilhabe am Gesellschaft-lichen zu erreichen. In unserer Gesellschaft muss der Vordereingang für die Menschenmit Behinderung erst noch geöffnet werden. Viel zu häufig werden sie nur über dieRampe am Lieferanteneingang hereingelassen. Das wollen wir endlich ändern.