Diese Webseite verwendet ausschließlich für die Funktionen der Website zwingend erforderliche Cookies.
Lothar Hay zu TOP 37 + 40: Nur wer sich ändert, bleibt sich treu
Sozialdemokratischer Informationsbrief Kiel, 15.12.2004 Landtag Es gilt das gesprochene Wort! Sperrfrist: Redebeginn aktuellTOP 37 + 40 – Bildungsqualität im gegliederten Schulwesen verbessern / PISA IILothar Hay:Nur wer sich ändert, bleibt sich treuIhr Antrag „Bildungsqualität im gegliederten Schulwesen verbessern“ ist zusammenge- fasst nichts anderes als die Fortsetzung des gegliederten Schulwesens. Von Weiter- entwicklung ist in Ihrem Antrag nichts zu erkennen. Die von Ihnen formulierte Zielset- zung der deutlichen Trennung der drei Schulformen Hauptschule, Realschule und Gymnasium fast ohne jede Änderung zeigt nicht das geringste Verständnis für die notwendigen Konsequenzen, die aus Pisa I und aus Pisa II gezogen werden müssen.Die gute Nachricht ist, dass die 15-jährigen Schülerinnen und Schüler aus Deutsch- land bei PISA 2003 besser abgeschnitten haben als bei PISA 2000. Leider gibt es kei- nen Anlass für die Annahme, dass sich die deutsche Schule auf dem richtigen Weg befindet und sich schon quasi von ganz allein nach vorn vorarbeiten wird.Die große Stärke der PISA-Studie ist, dass sie nicht bei der Diagnose der Leistungser- gebnisse stehen bleibt. Denn dass die Fähigkeit, Probleme zu lösen, gerade bei Hauptschülern und Gesamtschülern besonders gut entwickelt ist, macht ja deutlich, dass nicht die Hauptschüler und nicht die Hauptschullehrer, sondern die Hauptschule selbst das Problem ist. Schleswig- HolsteinHerausgeber: SPD-Landtagsfraktion Verantwortlich: Petra Bräutigam Landeshaus Postfach 7121, 24171 Kiel Tel: 0431/ 988-1305/1307 Fax: 0431/ 988-1308 E-Mail: pressestelle@spd.ltsh.de Internet: www.spd.ltsh.de SPD -2-Was die neue Studie so spektakulär macht, ist gerade das, was sich nicht geändert hat. Und dazu gehört an allererster Stelle der unerträgliche Befund, dass in der Bun- desrepublik Deutschland noch immer die soziale Herkunft der entscheidende Faktor für die Bildungschancen ist. 44 % unserer Hauptschüler stammen aus den 25 % der Familien mit dem geringsten ökonomischen, sozialen und kulturellen Potenzial. Und 52,8 % der Gymnasiasten stammen aus den 25 % mit dem höchsten wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Status. Nur die Integrierten Gesamtschulen bieten ein ausgewogenes Bild.Und damit sind wir – Sie haben es schon geahnt – bei der Frage, die für uns im Mittel- punkt der PISA-Debatte steht, nämlich der Frage nach dem Schulsystem. Ich gebe gern zu, dass sich auch die SPD dieser Frage viel zu spät gestellt hat. Wir alle sind un- ter den Bedingungen des gegliederten Schulsystems aufgewachsen, und so ist es ver- ständlich, dass viele Menschen in Deutschland sich ein grundsätzlich anderes Schul- system nur schwer vorstellen können.Unser Schulsystem ist eine historische Sonderentwicklung, die die meisten anderen Länder schon lange hinter sich gelassen haben. Die soziale Aufspaltung der Schüler ist ein Erbe aus der Vergangenheit. Es ist einer der Fehler der Bundesrepublik, das Weimarer Schulsystem ohne grundsätzliche Veränderungen übernommen zu haben.In den wichtigen Leistungsbereichen liegt Finnland weiter uneinholbar an der Spitze, Schweden etwas besser als wir und Dänemark mal vor, mal hinter Deutschland. Aber der entscheidende Unterschied ist eben, dass alle diese Länder die Bildungspotenziale der nachwachsenden Generation viel stärker ausschöpfen, als wir das tun. Denn die Gemeinschaftsschule, die wir fordern, ist eben keine Einheitsschule, die alle Kinder über einen Kamm schert. Wenn Kinder punktuelle Schwächen in ihrer Lernlaufbahn zeigen, besteht unsere Antwort heute nicht darin, sie individuell zu fördern, sondern wir zwingen sie, komplette Jahre zu wiederholen. -3-Die schönste Begründung dafür hat vor wenigen Tagen ein Sprecher des niedersäch- sischen Kultusministers geliefert, der gegenüber der Presse erklärte: „Die Nicht- Versetzung von Schülern ist eine gewachsene Tradition.“ Alles nach der Devise: „Das haben wir schon immer so gemacht.“ Für diese Art Traditionspflege sind uns allen un- sere Kinder einfach zu schade.Ich will nicht behaupten, dass sozialdemokratische Bildungspolitiker immer den Kö- nigsweg gefunden haben. Aber ich weise auch die Kolleginnen und Kollegen von der Opposition darauf hin, dass das Nachdenken über das dreigliedrige Schulwesen auch in ihren Reihen eingesetzt hat. Es war ein fraktionsübergreifender Beschluss von SPD und CDU im Saarland, die eigenständigen Hauptschulen aufzugeben. Und auch die sächsische CDU hat sich mit der SPD darauf verständigt, verstärkt Gemeinschafts- schulen zu genehmigen – das hat auch etwas mit den Folgen der demographischen Entwicklung für die Schulstrukturen zu tun. Es sind nicht nur die PISA-Ergebnisse, sondern es ist der uns jetzt auch im Westen einholende Rückgang der Schülerzahlen, der für zahlreiche Schulen die Bestandsfrage stellt.Ich habe neulich an einer Veranstaltung mit dem Hamburger Pädagogen Peter Struck teilgenommen, der sagte, Deutschland stehe vor einem bildungspolitischen Scheide- weg. Entweder werde die Schule wieder zur Paukanstalt der 50er Jahre mit Angst und Selektion – dass dies allerdings auch zu beachtlichen Leistungen führen kann, zeigen uns die Schulen in Südkorea und Japan. Oder wir orientieren uns an den Grundprinzi- pien der skandinavischen Schulen mit mehr Integration und mit mehr Motivation, mit selbständigen Schulen, die mit Recht für sich in Anspruch nehmen dürfen, der tägliche Lebensmittelpunkt der Schülerinnen und Schüler zu sein.Wir Sozialdemokraten schlagen vor, den letzteren Weg zu gehen. -4-Wir schlagen vor, unser Schulsystem langfristig europäischen Standards anzupassen und uns von einem gescheiterten deutschen Sonderweg zu verabschieden. Wir schla- gen vor, das, was in den ersten vier Jahren gut funktioniert, was uns die IGLU-Studie ja gezeigt hat, um weitere sechs Jahre zu ergänzen, nämlich die Schule für alle in den ersten zehn Schuljahren.Die Gemeinschaftsschule ist nicht das Konzept eines Standardmodells, sondern seine Struktur ist flexibel und orientiert sich an den jeweils individuellen schulischen und re- gionalen Rahmenbedingungen. Ein solcher Prozess wird mehr als zehn Jahre für sei- ne Entwicklung in Anspruch nehmen. Von einem abrupten Systemwechsel kann also keinesfalls gesprochen werden und dieser ist auch nicht von uns beabsichtigt. Insofern wird es darauf ankommen, bestehende Angebote zu Gemeinschaftsschulen weiterzu- entwickeln.Wir wissen, dass dies ein langer Weg sein wird. Ich kann unseren PISA-Koordinator Prof. Prenzel also beruhigen, einen „überstürzten Umbau des Schulsystems“ beab- sichtigt niemand. Aber wir wollen uns nicht auf Dauer nur so schnell bewegen können, wie dies der Langsamste für richtig hält. Wir werden in der nächsten Legislaturperiode den Ausbau der Ganztagsschule weiter entschlossen vorantreiben. Wir werden mit der Reform der Lehrerausbildung weiter machen. Wir werden die Schulentwicklungsplanung überarbeiten. Wir werden gemeinsam mit Lehrern, Schülern, Eltern und allen weiteren Beteiligten ei- nen gemeinsamen Weg bei dem Ziel Gemeinschaftsschule gehen.