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Karl-Martin Hentschel zur Bildungsqualität und zu PISA II
PRESSEDIENST Fraktion im Landtag Schleswig-Holstein Pressesprecherin Es gilt das gesprochene Wort! Claudia Jacob Landeshaus TOP 37+40 – Bildungsqualität im gegliederten Schul- Düsternbrooker Weg 70 24105 Kiel wesen verbessern und PISA II Durchwahl: 0431/988-1503 Zentrale: 0431/988-1500 Dazu sagt der Fraktionsvorsitzende Telefax: 0431/988-1501 von Bündnis 90/Die Grünen, Mobil: 0172/541 83 53 E-Mail: presse@gruene.ltsh.de Karl-Martin Hentschel: Internet: www.sh.gruene-fraktion.de Nr. 404.04 / 15.12.2004Individuelle Förderung statt Aussortieren Egal wie man PISA interpretiert, in jedem Fall hat PISA uns viele Punkte gezeigt, warum andere Länder besser abgeschnitten haben und wo wir etwas verbessern können: • Der Bildungsauftrag an den Kindertagesstätten muss gestärkt werden, • wir müssen mehr Geld in kleine Kinder investieren, • wir brauchen eine bessere und frühzeitige Förderung von ImmigrantInnen, • wir brauchen mehr individuelle Förderung in den Schulen, • wir brauchen ganztägige Angebote, • Schulen sollten sich mehr zu Lebenszentren im Stadtteil bzw. Ort entwickeln, wo Jugendarbeit und Schule zusammengeführt werden, • Schulen müssen mehr Selbständigkeit bekommen – möglichst in kommunaler o- der freier Trägerschaft, • Schulen müssen über Personal, Organisation und Inhalte selbständig entscheiden können, • die Schule muss mehr als bisher ihren Erziehungsauftrag wahrnehmen.Viele dieser Punkte, die noch vor wenigen Jahren hoch umstritten waren, wie die Ganz- tagsschulen, sind mittlerweile Konsens – andere sind noch in der Debatte. Einig sind wir uns im Prinzip auch dabei, dass wir bessere Evaluationsformen brauchen, dass die Er- gebnisse von Schulen miteinander verglichen werden müssen und die Schulen sich im Wettbewerb beweisen müssen.So weit, stelle ich fest, gibt es im Bildungsdiskurs durchaus eine rationale Diskussion. Kommen wir aber zu dem zentralen Punkt, dem Schulsystem, dann schlagen die Wogen hoch. Deswegen ist es erfreulich, dass sich sowohl PISA 2003 wie auch die im August diesen Jahres veröffentlichte vertiefende Analyse der PISA 2000-Daten intensiv mit die- ser Frage beschäftigt haben.1/4 Schauen wir uns zunächst die vordere Hälfte der 29 getesteten OECD-Staaten bezüglich der Lesekompetenz an. Das sind also die 15 besten Staaten. Darunter findet man 12 Staaten, die die Kinder mindestens bis zum 14. Lebensjahr gemeinsam unterrichten. drei Staaten, die die Kinder bis 12 oder 13 Jahren gemeinsam unterrichten, und keinen einzi- gen Staat, der die Kinder schon mit zehn oder elf Jahren trennt wie Deutschland.In der hinteren Hälfte der OECD-Staaten dreht sich das Bild um: Dort trennen die Mehr- zahl der Staaten ihre Kinder bereits mit 10 oder 11 Jahren – wie in Deutschland. Als an- gebliches Gegenbeispiel wird nun neuerdings die Niederlande genannt. Die Niederlande teilen die Kinder mit 12 Jahren auf und sind bei der mathematischen Kompetenz auf Platz 3 gekommen. Allerdings ist auch die Niederlande als Gegenbeispiel ungeeignet. Denn dort werden die Kinder bereits mit 4 Jahren eingeschult, so dass die Kinder vor der Aufteilung 8 Jahre gemeinsam unterrichtet werden.Ich fasse also zusammen: Die Studie PISA 2 sagt nicht, dass Länder mit Gemeinschafts- schulen immer automatisch besser sind. Sie sagt aber wohl, dass solche Länder im Durchschnitt erheblich besser abschneiden.Je früher die Schüler getrennt werden, desto größer sind die Leistungsunterschiede. Nicht die starken Schüler leiden unter unserem System, sondern die Schwachen. Das Gymnasium kann international durchaus mithalten, aber die Ergebnisse der deutschen Hauptschulen sind indiskutabel schlecht.Schauen wir uns nun noch an, welche SchülerInnen auf die Hauptschulen kommen. Es sind nämlich nicht vor allem die Leistungsschwächeren, sondern es sind vor allem die Kinder der Unterschicht. Anders als PISA 2000 unterscheidet PISA 2003 nicht mehr nach Berufsgruppen der Eltern, sondern nach 4 soziokulturellen Schichten, die jeweils genau ein Viertel der Bevölkerung umfassen.Das Ergebnis für Deutschland ist ernüchternd: Kinder aus dem oberen Viertel haben eine neun mal so hohe Chance aufs Gymnasium zu kommen wie die aus dem dritten Viertel. Gegenüber dem unteren Viertel ist die Chance sogar 15-mal so hoch.Nun könnte man denken, die Kinder aus dem unteren Viertel sind eben viel dümmer. Deswegen vergleicht PISA explizit Kinder mit gleicher Grundkompetenz. Ergebnis: Kin- der aus dem oberen Viertel haben eine 12-mal so hohe Chance, aufs Gymnasium zu kommen, wie Kinder aus dem unteren Viertel mit gleicher Grundkompetenz. Oder anders ausgedrückt, von zwölf klugen Kindern aus typischen Unterschichthaushalten, die die In- telligenz eines durchschnittlichen späteren Abiturienten haben, schafft nur eines tatsäch- lich in Deutschland das Abitur.Der Rest sitzt vermutlich rebellierend auf den Hinterbänken der Hauptschule und stört, ist aufgrund mangelnder sozialer Kompetenz nicht geeignet, eine Lehre aufzunehmen und wird möglicherweise dann einer der intelligenten Sozialhilfeempfänger, die sich mit allen Listen und Tricks durch das System schlagen. So gehen wir mit den geistigen Ressour- cen der Unterschicht um. Das ist der Skandal.Im August dieses Jahres ist eine ergänzende Studie von PISA 2000 veröffentliche wor- den. Diese Studie stellt sich unter anderem genau die Frage – die uns so beschäftigt: Warum ist unser dreigliedriges System schlechter?Die Antwort: Das mehrgliedrige Schulsystem ist hochgradig selektiv. Das damit verbun- dene Bestreben nach Homogenisierung der Lerngruppen führt zu einer „Entsorgungs- mentalität“ – also Querversetzen oder sitzen bleiben lassen.Dazu kommt, dass die sozialen Verhältnisse, unter denen Kinder aufwachsen, in Deutschland beträchtlichen Einfluss auf ihren Schulerfolg haben. Wenn sie selektionsbe- dingt Schulen besuchen, die einen hohen Anteil von Schülern aus ungünstigen familiären Verhältnissen haben, wird dieser Effekt sogar noch mal verstärkt. In erfolgreichen Län- dern gelingt es den Schulen, dies weitgehend zu kompensieren.Positive Selektion spielt praktisch kaum noch eine Rolle, es überwiegt die negative Se- lektion durch Zurückstellen, Sitzen bleiben lassen, Querversetzen, Abstufen. Das führt zu einem negativen Selbstwertgefühl leistungsschwacher Schüler, die sich in Schulverdros- senheit und Unterrichtsstörungen äußern.In anderen Ländern bleiben dagegen die Kinder bis zum 8. oder 9. Schuljahr zusammen, so dass die Kinder relativ spät in eine genau fixierte Leistungsrangfolge gebracht wer- den. Das Erreichen von Grundkompetenzen steht über viele Jahre im Vordergrund. Wei- ter stellt die Studie fest: Die homogenen Lerngruppen in Deutschland legen es nahe, alle Schüler mit dem gleichen Stoff zu konfrontieren und Unterrichtsgespräche mit der gan- zen Klasse zu führen, anstatt sie in kleinen Lerngruppen oder individuell arbeiten zu las- sen. Leistungsschwache Schüler leisten signifikant mehr, wenn sie zusammen mit leis- tungsstärkeren Kindern unterrichtet werden.Obwohl leistungsstarke Schüler von anderen durchaus profitieren können, kommt dies häufig nicht zur Wirkung. Denn in Deutschland kommen viele potentiell leistungsstarke SchülerInnen – auch oft Hochbegabte – gar nicht auf das Gymnasium oder sie werden wegen Verhaltensauffälligkeiten und mangelnder individueller Förderung ausgesiebt.Eine besonders negative Rolle im deutschen System spielt das Sitzenbleiben. Sit- zenbleiben führt bei gleicher Testintelligenz zu einem deutlichen Abfall der kognitiven Fähigkeiten der SchülerInnen.Jungen bleiben bei gleicher Intelligenz häufiger sitzen. Dies ist überwiegend eine Folge der mangelnden Berücksichtigung geschlechterspezifischer Belange in der Pubertät. In der 6. bis 8. Klasse bleiben bei gleicher Intelligenz jedes Jahr ein Drittel mehr Jungen sit- zen als Mädchen. Auch dies eine Folge der mangelnden individuellen Förderung. An der Grundschule betrifft das Sitzenbleiben vor allem Migrantenkinder, die viermal häufiger Sitzen bleiben als deutsche Kinder. Anstelle von Sprachförderung lässt man al- so Migrantenkinder sitzen – mit allen negativen Folgen für ihre kognitive Entwicklung.Zusammenfassend kommt diese Studie zu dem Ergebnis: Es gibt international keinen Beweis dafür, dass Schulsysteme, die die Kinder früh nach Schularten trennen, leistungsfähiger oder leistungsschwächer sind. Es gibt aber eine ganz klare Tendenz, dass die Abhängigkeit des Schulerfolgs vom sozialen Status des El- ternhauses um so größer ist, je früher die Kinder getrennt werden und das unser System schwache Schüler massiv benachteiligt.Es ist deshalb kein Wunder, dass in der Wirtschaft – und insbesondere im Handwerk, die die meisten Hauptschüler aufnehmen, die Stimmen am lautesten sind, die die Abschaf- fung des dreigliedrigen Schulsystems fordern.Und deshalb fordere ich die Opposition auf, die kurzsichtige ideologische Blockade auf- zugeben. Legen Sie ihre Scheuklappen ab und treten Sie mit uns für die Gemeinschafts- schule bis zum 9. Schuljahr ein. Denn nur so können wir die individuelle Förderungen al- ler Fähigkeiten und die optimale Entwicklung aller Kinder sicher stellen. ***