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21.01.05 , 14:40 Uhr
B 90/Grüne

Karl-Martin Hentschel, Krista Sager, Christa Goetsch und reinhard Bütikofer: Kieler Erklärung für eine Neue Schule

PRESSEDIENST Fraktion im Landtag Schleswig-Holstein Pressesprecherin Claudia Jacob Landeshaus Düsternbrooker Weg 70 24105 Kiel
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Nr. 012.05 / 21.01.2005
Kieler Erklärung für eine neue Schule: Durch individuelle Förderung mehr Leistung
Die Vorsitzenden aller Grünen Landtagsfraktionen haben sich heute auf die „Kieler Erklä- rung“, ein gemeinsames Bildungspapier geeinigt. Dazu erklären die Fraktionsvorsitzende im deutschen Bundestag, Krista Sager, die Fraktionsvorsitzende der GAL Hamburg, Christa Goetsch, der Bundesvorsitzende Reinhard Bütikofer und der Fraktionsvorsit- zende im Schleswig-Holsteinischen Landtag, Karl-Martin Hentschel:
Damit sind wir die erste Partei, in der sich alle Bundesländer auf eine gemeinsame bil- dungspolitische Position geeinigt haben und damit die Bildungsreform wesentlich voran bringen. Unser Ziel ist eine Schule nach skandinavischem Vorbild. Wir wollen ein neues Bildungssystem, in dem alle Kinder, wie in allen erfolgreichen PISA-Ländern, länger eine gemeinsame Schule besuchen und individuell gefördert und gefordert werden.
Die Wahl in Schleswig-Holstein hat für diese Frage eine große Bedeutung. In Schleswig- Holstein wird entschieden, ob Deutschland die ersten Schritte hin zu einer modernen neuen Schule geht oder ob die konservativen Kräfte die Schulreform ausbremsen und al- les beim Alten bleibt.
Es ist ein Stück lebendige Demokratie, dass die Bürgerinnen und Bürger in Schleswig- Holstein über die Zukunft der Bildung entscheiden können.
Eine solche Umstellung des Schulwesens ist aber kein Selbstzweck. Die Grünen Frakti- onsvorsitzenden haben sich deshalb auf folgende Schwerpunkte geeinigt, die für uns im Vordergrund stehen sollen: 1. Gemeinsamer Unterricht bedeutet eine Schule, in der alle Kinder individuell gefördert werden. Eine Einheitsschule lehnen wir ab. Es müssen Bedingungen geschaffen wer- den, das heißt auch die materiellen und personellen Ressourcen, die eine individuelle Förderung jedes einzelnen Kindes ermöglicht. Die LehrerInnen sollen durch Schulas- sistentInnen bei ihrer Arbeit unterstützt werden.
2. Wir wollen einen Wechsel des Schulsystems, weil andere Länder gezeigt haben, dass durch individuelle Förderung mehr Leistung erzielt, mehr Kinder zum Abitur geführt und so mehr soziale Gerechtigkeit erreicht werden. Kinder sollen getestet werden, um sie besser fördern zu können und nicht, um sie zu sortieren. Bei aller Leistungsorien- tierung darf aber die Freude am Lernen nicht verloren gehen. Am besten lernt man, wenn man sich anstrengt und Freude dabei hat.
3. Das dritte Ziel ist die Selbstständigkeit der Schulen - in organisatorischen, pädagogi- schen und personellen Fragen. Selbstständige Schulen, in denen alle wichtigen Fra- gen vor Ort entschieden werden, brauchen aber auch eine kontinuierliche Evaluation, die die Lernfortschritte an der Schule misst und an die Schule zurück meldet.



Kieler Erklärung
Aufbruch nach PISA: Für eine neue Schule Leistung individuell fördern – länger gemeinsam lernen
Niemanden zurücklassen – alle Begabungen entfalten Bildung steht für alle grünen Landtagsfraktionen im Mittelpunkt ihrer Politik. Bildung ent- wickelt die Fähigkeit jedes Menschen, selbstständig das Leben zu gestalten und Verant- wortung zu übernehmen: Für sich selbst, für die Gesellschaft und für die Umwelt. Eine gute Bildung für alle zu erreichen, ist daher ein Grundanliegen grüner Politik in Landta- gen und im Bundestag. Weil für uns der Zugang zu Bildung eine Frage gesellschaftlicher Gerechtigkeit ist, werden wir weiter Zugangshürden abbauen und das Bildungswesen of- fen gestalten. Alle sollen, unabhängig von Geschlecht, sozialem Status oder ethnischer Herkunft an Bildung teilhaben können.
Gute Bildungspolitik ist aber auch Teil unserer Wirtschaftspolitik. Bildung und Ausbildung sind die wichtigsten Ressourcen in der Wissensgesellschaft und im globalen Wettbe- werb. Dies gilt umso mehr, wenn aufgrund der demografischen Entwicklung der Bedarf an gut ausgebildeten jungen Menschen und gut weitergebildeten älteren Menschen stei- gen wird. Aus Gründen der persönlichen Chancengleichheit, aus sozialpolitischen wie auch aus wirtschaftspolitischen Gründen gilt daher für uns: Wir dürfen niemanden zu- rücklassen, wir wollen alle Begabungen entfalten.

I. Ausgangslage: Das deutsche Schulsystem ist gescheitert Das derzeitige Schulsystem hat viele Mängel. Seit den Veröffentlichungen der PISA Er- gebnisse sind sie offenkundig. Falsche Herkunft – trotz Schule keine Chancen In keinem vergleichbaren Land hängt der Bildungserfolg so sehr von der sozialen Her- kunft der Kinder ab wie in Deutschland. Die Chancen von Akademikerkindern auf ein Gymnasium zu wechseln bzw. einen hohen Bildungsabschluss zu erlangen, sind – bei gleichen Leistungen - viermal so hoch wie die der AltersgenossInnen, deren Eltern Fach- arbeiter sind. Die erst kürzlich veröffentlichte PISA II Studie (2003) belegt erneut eine di- rekte Koppelung zwischen der Entwicklung der Mathematikleistung, der besuchten Schulform und dem Elternhaus. Längst haben sich in den jeweiligen Schulformen sehr unterschiedliche, abgeschottete Lernwelten entwickelt. Hier werden die gravierenden so- zialen Ungleichheiten fortgeschrieben und verstärkt.
Zu viele Abbrecher – zu wenige Abiturienten Schlechte Leistungen sind damit auch ein Problem des Systems und der ihm innewoh- nenden Selektionslogik. Ein großer Teil der deutschen Schülerinnen und Schüler (ca. 20 – 25 %) erreicht allenfalls die unterste Kompetenzstufe. Die Lern- und Arbeitsperspekti- ven dieser Jugendlichen werden von den PISA-Forschern besonders schlecht beurteilt. Aber auch die Spitzengruppe ist im internationalen Vergleich eher klein und keinesfalls Spitze. Zwar erreichen je nach Bundesland 20% – 30% der SchülerInnen das Abitur. Im Vergleich dazu spielen Finnland mit ca. 60 Prozent und Schweden mit über 70 Prozent aber in einer anderen Liga.

Sortieren fördert keine Leistung Im internationalen Vergleich fällt auf, dass ausnahmslos die mit der Grundschulzeit be- ginnende Zeit gemeinsamen Lernens länger währt als in Deutschland; in den besonders erfolgreichen Ländern dauert sie bis zum Ende der Sekundarstufe I. Die Verlängerung der Zeit gemeinsamen Lernens in Verbindung mit einer Veränderung der Unterrichtskul- tur und individueller Förderung scheint also ein Indikator für die Leistungsfähigkeit eines modernen Schulwesens zu sein.
Die in Deutschland vorherrschende Grundüberzeugung, wonach homogene Lerngruppen und ein gegliedertes bzw. leistungsdifferenziertes Schulwesen exzellente Schülerleistun- gen garantieren, ist nicht länger haltbar. Seit PISA und anderen Schulstudien wissen wir: In der ganzen Republik werden Schülerinnen und Schüler ständig falsch sortiert. Die In- strumente und -methoden zur Diagnose des Lernerfolgs versagen weitgehend, da grundsätzlich nach vier oder sechs Schuljahren nie mit Sicherheit prognostiziert werden kann, welche Lernentwicklung eine Schülerin oder ein Schüler tatsächlich noch vor sich hat.


II. Kritik: Reformen als Stückwerk ohne Vision Das frühe Aussortieren von Kindern und das Verteilen auf verschiedene Bildungswege haben sich endgültig als falsch erwiesen. Das Sortiersystem des gegliederten Schulwe- sens scheitert daran, jeden einzelnen Menschen so zu fördern und zu fordern, dass alle ihre optimale Leistungsfähigkeit entfalten können. Es zementiert Chancenungleichheit, d.h. die Fähigkeiten junger Menschen werden nicht ausgeschöpft. Das System „produ- ziert“ Absteiger und Verlierer, zehn Prozent und mehr der SchülerInnen erreichen gar keinen Abschluss, von den Jugendlichen ohne deutschen Pass sogar nahezu 30 Pro- zent. Sie haben kaum eine Chance, auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt Fuß zu fas- sen. Das beinhaltet erheblichen sozialen Sprengstoff und zeigt das Versagen des Bil- dungssystems, einen Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit zu leisten. Dieses oft als leis- tungsgerecht bezeichnete System ist sozial ungerecht und nicht leistungsfördernd, es demotiviert und fördert allenfalls Mittelmaß.
Zu viele Reglementierungen – zu wenig Selbstständigkeit In allen Bundesländern hat es nach PISA zahlreiche Maßnahmen zur Schulpolitik gege- ben. Einige gehen in die richtige Richtung, etwa die Förderung neuer Unterrichtsformen. Wir begrüßen die Entscheidung der KultusministerInnen länderübergreifende Bildungsstandards einzuführen sowie einer Qualitätsagentur der Länder einzurichten. Wichtig ist auch die Etablierung von Evaluationseinrichtungen in den Ländern.
Bildungsstandards und Evaluation entfalten ihre Wirkung für die individuelle Lernförde- rung jeder einzelnen Schülerin und jedes einzelnen Schülers aber nur, wenn die Schulen größere Selbstständigkeit erhalten. Wir sind für Schulen, die sich an den Bildungsstan- dards orientieren, jedoch die pädagogischen Konzepte in eigener Verantwortung entwi- ckeln und umsetzen. Sie müssen selbst über Personaleinsatz, Unterrichtsgestaltung und Verwendung der Finanzmittel entscheiden können, verbunden mit der Verpflichtung, dies für die Allgemeinheit transparent zu machen.
Den Schulen muss es überlassen bleiben, auf welchem Weg sie die vorgegebenen Bil- dungsziele erreichen wollen. Hierfür muss es einen Rahmen geben, den sie eigenver- antwortlich ausfüllen können. Doch das gegenwärtige Geflecht an ministeriellen Regle- mentierungen steht dem entgegen. Differenzierte Lehrpläne, festgelegte Stundentafeln, Verordnungen, Notengebungsverfahren und Regelungen zum Sitzenbleiben verhindern, dass die Lehrerinnen und Lehrer die Verantwortung für ihren Unterricht und für die Lern- ergebnisse übernehmen können. In der neuen Schule dagegen konzentrieren sie ihre Kräfte auf die Gestaltung eines erfolgreichen Unterrichts und brauchen ihre Zeit nicht mehr damit zu verbringen, die Schülerinnen und Schüler den vermeintlich „richtigen“ Schulen zuzuweisen bzw. ständig zu überprüfen, ob sie noch an der „richtigen“ Schule sind.
Zu viel traditioneller Unterricht - zu wenig Integration Insgesamt bleibt die Bildungspolitik in den Ländern Stückwerk und ist vielfach von kurz- atmigem Aktionismus bestimmt. Vor allem bleiben die umfassenden Reformen aus, die zu einer neuen Lern- und Unterrichtskultur führen. Trotz der anders lautenden internatio- nalen Erfahrungen wird Heterogenität nicht als Chance zur individuellen Förderung aller Kinder wahrgenommen, sondern Schulpolitik setzt nach wie vor auf die vermeintlich leis- tungshomogenen Lerngruppen und die Sortierung von Kindern. CDU/FDP Regierungen schaffen integrative Modelle ab und stärken das gegliederte Schulwesen. Sie setzen damit wieder und noch stärker ausgrenzende Schulstrukturen durch. Eine solche Politik, die gleichzeitig die Suche nach integrativen Strukturen unter Denkverbot stellen will, wird von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN abgelehnt.


III. Leitbild für eine grüne Schulpolitik Wir stellen fest: Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, die Perspektiven für eine umfassende Re- form des Schulwesens zu entwerfen. Wir wollen, dass unser Bildungswesen insgesamt leistungsfähiger wird. Das heißt für uns: bessere Leistungen von allen Schülerinnen und Schülern, Abbau der sozialen Ungerechtigkeit, eine bessere Vorbereitung auf lebenslan- ges Lernen, eine Stärkung der Persönlichkeiten und soziales Lernen als Voraussetzung für solidarisches Zusammenleben in der Gemeinschaft. Immer mehr Menschen wird die wachsende Bedeutung einer neuen Schulpolitik für die künftige Wissensgesellschaft be- wusst. Sie sind nicht mehr bereit, die alten ideologischen Auseinandersetzungen um Dreigliedrigkeit versus Gesamtschulen zu führen, sondern wollen Schulen neu denken.
Zusätzlich entsteht Handlungsdruck (nicht nur in den Flächenstaaten) aufgrund der de- mographischen Entwicklung. Durch dem bevorstehendem starken Rückgang der Schü- lerzahlen wird das mehrgliedrige Schulsystem mit flächendeckend wohnortnahen Schu- len nicht mehr oder nur mit unvertretbar hohen Kosten aufrecht zu erhalten sein.
Unser Leitbild umfasst die innere und die äußere Schulreform - also Form und Inhalt - gleichermaßen. Aus diesem Verständnis von Schulpolitik formulieren wir daher folgende zehn Reformziele.

1. Auf den Anfang kommt es an: Bildung vor der Schule ausbauen
Das Fundament für die spätere schulische Entwicklung und für lebenslanges Lernen wird bereits in der frühen Kindheit, also lange vor der Einschulung gelegt. Wir wollen die Kin- dertageseinrichtungen als Lern- und Lebensort ausbauen. Alle Kinder sollen in ihrer Ent- wicklung gefördert und unterstützt werden, den Erziehenden wird die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglicht, die Erziehung in der Familie wird begleitet und ergänzt. Die Förderung der allgemeinen Bildungsentwicklung insbesondere die sprachlicher Kompe- tenz muss daher vor der Schule beginnen und über vorschulische Bereiche bis in die Grundschule gezielt fortgesetzt werden, um sicherzustellen, dass Kinder und Jugendli- che nicht aufgrund von Sprachschwierigkeiten auf ihrem späteren Bildungsweg benach- teiligt sind.
Entscheidend für die Qualität der Bildung und Erziehung in den Kindertagesstätten sind auch die Arbeitsbedingungen und die Kompetenzen und Fähigkeiten der ErzieherInnen. Deshalb müssen Ausbildung und Weiterbildung verbessert und reformiert werden. Nötig ist die Einführung und Umsetzung eines Bildungs- und Erziehungsplanes für Kinderta- geseinrichtungen und Schulen. Die Übergänge zwischen diesen Einrichtungen sind glei- tend zu gestalten, um Brüche in der Bildungsbiographie zu vermeiden, daher müssen Schulen und Kindergärten verbindlich miteinander kooperieren. Wichtig ist darüber hin- aus die flächendeckende Einführung von gleitenden Eingangsphasen an Schulen. Da- durch haben Kinder die Möglichkeit, die Klassenstufen 1 und 2 je nach Entwicklungs- stand in ein bis drei Jahren zu durchlaufen und individuell gefördert zu werden.

2. Schüler ernst nehmen bedeutet Leistung fordern
Der pädagogische Kern der neuen Schule für alle ist, jede SchülerIn ernst zu nehmen und kein Kind zurücklassen. Ein Credo in den Schulen in Schweden oder Finnland lautet: Schüler nicht zu beschämen, sondern sie zu Leistung anzustacheln. Lernen ist oft müh- sam und anstrengend, doch am besten lernt der, der sich anstrengt und Freude dabei hat. Gut ist für uns daher eine Schule, in die alle Kinder gerne gehen, gerade weil von ih- nen ein hohes Maß an Leistung gefordert wird.

3. Testen, um zu fördern Wir wollen mehr Leistung der Schülerinnen und Schüler durch eine neue Leistungs- und Bewertungskultur fördern. Doch das gegenwärtige Notensystem steht dem entgegen. Es dient vor allem dazu, das selektive Schulsystem aufrechtzuerhalten und die Schülerinnen und Schüler den „richtigen“ Schulen zu zuweisen bzw. ständig zu überprüfen, ob sie noch an der „richtigen“ Schule sind. Das praktizierte Notensystem ist in der Krise, das zeigt auch die mangelnde Akzeptanz bei SchülerInnen, Eltern, Ausbildungsbetrieben und Hochschulen. Noten messen vielfach das Falsche, z.B. was SchülerInnen im Kurzzeitge- dächtnis gespeichert haben. Sie erfüllen immer weniger die Aufgabe, die Leistungen und die Motivation der Schülerinnen und Schüler zu fördern. Überdies bindet der dafür erfor- derliche Korrektur- und Prüfungsaufwand, der oft Folge detaillierten Vorgaben ist, die Ar- beitskraft der Lehrerinnen und Lehrer.
Wir wollen und müssen Standards setzen und testen, ob sie erreicht werden – aber nicht, um zu sortieren, sondern um die Grundlage für individuelle Förderstrategien zu schaffen bzw. um Schulen anzuregen, ihre Qualität zu verbessern. Deshalb gibt es in der neuen Schule selbstverständlich Orientierungs- und Vergleichsarbeiten sowie Tests, die das Er- reichen des Bildungsstands überprüfen. Diese Instrumente dienen – anders als das bis- her praktizierte Notensystem - zur Beurteilung der Qualität von Schulen bzw. im Hinblick auf die Schülerinnen und Schüler zur Diagnostik von Stärken und Schwächen, damit die individuelle Förderung aller Kinder und Jugendlicher passgenau erfolgen kann. Diese Formen der Leistungsrückmeldung werden nicht mehr dazu verwendet, um Kinder aus- zusortieren, sondern sie sollen deren Leistungsbereitschaft und Motivation fördern, in- dem sie Schülerinnen und Schüler dabei unterstützen, ihre eigenen Neigungen zu er- kennen und ihre Fähigkeiten zu entfalten. Mit Hilfe dieser Instrumente können Kinder ler- nen, ihre eigenen Leistungen realistischer einzuschätzen und Strategien zu ihrer Verbes- serung zu entwickeln.
Für Leistungs- und Bewertungsmessung müssen Schulen die Verantwortung überneh- men, genau wie für Förderkurse und individuelle Lernunterstützung, damit Lernziele auch wirklich erreicht werden. Die Überprüfung und Verbesserung der Unterrichtsqualität muss mit der Abschaffung der Noten- und Versetzungsrichtlinien Hand in Hand gehen.

4. Schulen übernehmen Verantwortung
Schulen müssen die Verantwortung für den Lernerfolg aller ihrer Schülerinnen und Schü- ler übernehmen. Lehrerinnen und Lehrer können dieser Verantwortung besser gerecht werden, wenn sie nicht mehr aussortieren müssen. Dadurch wird eine neue Unterrichts- kultur ermöglicht, die geprägt ist von Methodenvielfalt, selbst bestimmtem und eigenver- antwortlichem Lernen der Schülerinnen und Schüler und individueller Unterstützung und Beratung durch die Lehrkräfte. Der Schlüssel für die Veränderung des Schulsystems ist die Selbstständigkeit der Schule. Sie soll die volle pädagogische Verantwortung dafür übertragen bekommen, wie Bildungsstandards und Unterrichtsziele erreicht werden. Da- bei spielt die Schulleitung eine herausgehobene Rolle, Lehrerinnen und Lehrer, Eltern und Schülerinnen und Schüler sollen jedoch umfassend an der Verantwortung für die Schule beteiligt werden. Mit eigenem Personalbudget beschäftigen Schulen ihre Lehr- kräfte (ohne Beamtenstatus) selbst und entscheiden, welche Lehrkräfte und welche pä- dagogischen Fachkräfte zum Profil der Schule passen.

5. Standards, Autonomie und Vielfalt Wir wollen selbstständige Schulen auch, um einen Prozess der schulpolitischen Innova- tionen zu befördern. Innovation entsteht durch Vielfalt und Wettbewerb der Ideen. Wir wollen, dass die Länder Kompetenzen an die Schulen weitergeben und Vorgaben ab- bauen. Dazu gehört auch eine Reform und Verschlankung der KMK, die weniger regeln darf. Wir setzen uns für die Abschaffung des Hamburger Abkommens ein, das durch de- taillierte Bestimmungen die Entwicklung von integrativen Schulen mit neuen Konzepten verhindert hat. Gemeinsame Standards dienen als Orientierung für die Arbeit in den Schulen, durch Evaluation und externe Tests verantworten sich Schulen. In Selbststän- digkeit können Schulen sich entwickeln und profilieren und stehen so durchaus in einem Wettbewerb um die besten pädagogischen Konzepte. Dadurch, dass Vielfalt ermöglicht wird, können Schulen (im Sinne von best practice) voneinander lernen.

6. Die neue Schule braucht einen neuen Rhythmus
Erfolgreiche Schulen arbeiten mit abwechselnd großen Lerngruppen gemischten Alters, ein kluger Rhythmus aus Lernen und Lehren, Angebote für Spiel und Bewegung – oder einfach nur Muße. Der Unterricht erfolgt nicht länger im 45-Minutentakt, sondern verteilt sich über den Tag. Hausaufgaben erledigen die SchülerInnen weitgehend in der Schule, und das Mittagessen wird zum Treffpunkt in der Kantine. Die Lehrerinnen und Lehrer sind den ganzen Tag ansprechbar, weil sie ihren Arbeitsplatz in der Schule haben.

7. Ganztagsschule im Stadtteil
Zu einer Qualitätsverbesserung von Schulen gehört die Förderung der Lern- und Ent- wicklungsmöglichkeiten der jungen Menschen über den derzeitigen Unterrichts- und Schulrahmen hinaus. Die ganztägig geöffnete Schule als ein offenes Haus des Lernens und der Begegnungen soll Kindern und Jugendlichen vielfältige Lernerfahrungen, Anre- gungen sowie soziale Kontakte ermöglichen. Deshalb sind wir für die Einbeziehung von Vereinen, von Musik- und Kunstschulen, von weiteren Bildungsträgern, von Handwer- ker/innen, Künstler/innen, Studierenden, Schulsozialarbeit, Jugendhilfe, Eltern und Seni- oren. Die ganztägig geöffnete Schule muss auch mit der Jugendhilfe kooperieren. So sol- len insbesondere in der Grundschule bestehende außerschulische Betreuungsangebote einbezogen werden.

8. Gute Lehrer und gute Ausbildung
Für eine neue Schule streben wir auch eine Reform der Lehramtsstudiengänge an. Die Lehrerausbildung der Zukunft darf sich nicht mehr an den Schulstrukturen orientieren. Im Mittelpunkt muss die individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler stehen. Ohne eine Verbesserung der Aus- und Fortbildung der LehrerInnen und ErzieherInnen werden die notwendigen Bildungsreformen nicht gelingen. Eine gute Schule braucht PädagogIn- nen und andere MitarbeiterInnen, die im Team arbeiten, mit heterogenen Lerngruppen umgehen und Eltern und SchülerInnen beraten können.
Wir brauchen eine Stärkung der Erziehungswissenschaft, Pädagogik und Didaktik, denn wir wollen Lehrkräfte, die nicht in erste Linie Fächer, sondern Kinder unterrichten. Die Studierenden müssen frühzeitig praktische Erfahrungen im Unterricht und weiteren Schulalltag machen können. Fort- und Weiterbildung muss für ErzieherInnen wie für Leh- rerInnen und andere Fachkräfte obligatorisch sein, für die Teilnahme müssen sie von der Arbeit freigestellt werden. 9. Gleiche Chancen und individuelle Förderung
Diesen neuen Schulen muss die Möglichkeit gegeben werden, bis zum Ende der Schul- pflicht alle Kinder gemeinsam zu unterrichten und individuell zu fördern. Hierfür müssen die Voraussetzungen in Schulgesetzen und im Rahmen regionaler Schulentwicklung ge- schaffen werden und die Schulen müssen die dafür notwendige Ausstattung erhalten. Das Ziel einer leistungsfähigen und motivierenden Schule ist nicht „von oben“ per Gesetz durchzusetzen. Eltern, Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte, Wirtschaft und Öffentlich- keit müssen als BündnispartnerInnen für dieses Ziel einer besseren Schule gewonnen werden, die auf Ausgrenzung verzichtet und die Verschiedenheit ihrer Schülerinnen und Schüler als Ressource betrachtet.
Die Schule der Zukunft muss der zunehmenden Heterogenität ihrer Schülerschaft Rech- nung tragen und sie als Chance begreifen. Das bedeutet weder „Einheitsschule“ noch „Gleichmacherei“: Gleicher machen wollen wir die Chancen aller Kinder. Aber individuelle Förderung in einer neuen Schule für alle bedeutet die konsequente „Ungleichmacherei“. Begabtenförderung und Förderung der Benachteiligten schließen sich dabei nicht aus, sondern bedingen einander. Eine gute Schule ist für uns daher diejenige, die die meisten Lernzuwächse ermöglicht und den SchülerInnen die besten Lernchancen bietet. Integ- rierte Systeme können die SchülerInnen durch anregungsreichere Lernmilieus in ihrer in- dividuellen Lernleistung besser fördern als eine gleichförmige, anregungsarme Lernorga- nisation.
Zudem schafft eine Schule der Vielfalt bis zur Klasse 9 oder 10, die auf das Sitzenblei- ben verzichtet, die größtmögliche Offenheit für die unterschiedlichen Lernentwicklungen ihrer SchülerInnen. An diese Schule schließt sich eine allgemein bildende gymnasiale Oberstufe, die beruflichen Gymnasien bzw. Berufskollegs oder die Duale Ausbildung an.

10. Bildung hat ihren Preis
Der Umbau und die Verbesserung des Bildungssystems kann in weiten Bereichen durch die Umschichtung der vorhandenen Ressourcen geleistet werden. Fraglos wird die Um- gestaltung in einigen Feldern zusätzliche Mittel erfordern. Der Ausbau der vorschulischen Bildung, die gezielte Förderung von Schülerinnen und Schülern und ihren Eltern aus so- zial schwachem Umfeld oder von Hochbegabten kostet ebenso zusätzliches Geld wie der Aufbau und die räumliche Gestaltung von Ganztagsschulen. Die Bundesregierung ist mit dem Ganztagsprogramm hier einen wichtigen Schritt vorangegangen. Die von uns angestrebten Strukturveränderungen werden sich jedoch auch ökonomisch auszahlen. Die effektivere und effizientere Ausnutzung von Ressourcen in der Verwaltung wird sich etwa für die Landeshaushalte rechnen. Vor allem, wenn es beispielsweise gelingt, das Nebeneinader unterschiedlicher Schulformen zu beenden, Teile der Jugendarbeit in die Ganztagsschule zu integrieren, das „Sitzenbleiben“ abzuschaffen und teure Warteschlei- fen und „Nachholqualifizierungen“ im Bereich der Berufsbildung überflüssig zu machen. ***

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