Diese Webseite verwendet ausschließlich für die Funktionen der Website zwingend erforderliche Cookies.

Datenschutzerklärung

26.01.06 , 10:27 Uhr
SSW

Lars Harms zu TOP 4 & 23 - Ausbau von Frühförderung und verbindliche Vorsorgeuntersuchung für Zweijährige

Presseinformation
Kiel, den 26.01.2006 Es gilt das gesprochene Wort



Lars Harms
TOP 4 & 23 Ausbau von Frühförderung und verbindliche Vorsorgeuntersuchung von Zweijährigen Drs. 16/518, 16/519


Berichte über grausame Kindesmisshandlung und Verwahrlosung lassen uns immer wieder
aufschrecken und fordern die Gesellschaft zum Handeln auf. Noch viel mehr Kinder wachsen
unter schlechten Bedingungen auf, die nicht so extrem sind, aber auch unser Augenmerk
verdienen. Viele Probleme haben Kindesbeine. Individuelle und gesellschaftliche Probleme von
Übergewicht bis zur Kriminalität haben ihre Ursache in den Bedingungen, unter denen Kinder
aufwachsen. Es gibt also viele gute Gründe dafür, dass die Gesellschaft sich der Kinder annimmt,
wenn niemand anders auf sie Acht gibt.


Deshalb ist die Idee natürlich richtig, bei jedem Kind frühzeitig nachzusehen, ob es
Unterstützung benötigt. Bei Vorsorgeuntersuchungen steht das einzelne Kind im Mittelpunkt;
Defizite können frühzeitig erkannt und entsprechende Gegenmaßnahmen noch rechtzeitig
ergriffen werden. Dieses geschieht ja auch schon im Rahmen der „U“-Untersuchungen der
gesetzlichen Krankenkassen. Nur: Die U1 bis U10-Untersuchungen sind freiwillig und natürlich
erscheinen gerade jene Eltern nicht, deren Kinder diese Vorsorge am dringendsten benötigen. Da 2

liegt der Gedanke nahe, die Pflicht zur Teilnahme an den Untersuchungen vorzuschreiben.
Allerdings ist dieser Plan von Bündnis 90/Die Grünen nicht unproblematisch – und das aus
mehreren Gründen.


Sowohl im Antrag als auch im Gesetzentwurf wird deutlich: Man muss die Regelung ziemlich
kompliziert stricken, damit sie in den heutigen Rahmen passt.
Im Gesundheitswesen gibt es keine einheitlichen Kostenträger für solche Maßnahmen, denn nur
ein Teil der Bevölkerung ist gesetzlich versichert und wird damit von den „U“-Untersuchungen
umfasst.
Zudem kann eine für alle pflichtige Untersuchung nur im Rahmen des öffentlichen Gesund-
heitsdienstes erfolgen, was zur Folge hat, dass uns in diesem Gesetzentwurf eine leicht
verwirrende Lösung vorgelegt wird: Das Gesundheitsamt wird Träger, soll aber durch Gebühren
Eltern und Kinder gleich wieder zurück zur Krankenkasse treiben. Damit mag man dann auch
gleich das Problem der Konnexität gemildert haben, eine transparente, verständliche Lösung ist
dieses aber mit Sicherheit nicht.


Durch die von den Grünen vorgeschlagene Kostenregelung für die Untersuchungen in den
Gesundheitsämtern würde zudem mit einem wichtigen Prinzip gebrochen – nämlich, dass
Gesundheitsleistungen für Minderjährige generell gebührenfrei sind und viele
Vorsorgemaßnahmen sogar auch bei Erwachsenen. Im Gesetzentwurf der Grünen ist zwar die
Möglichkeit eingebaut, die Pflichtuntersuchung kostenlos beim Kinderarzt durchführen zu
können. Vom Prinzip kostenloser Gesundheit für Kinder wird aber erst einmal abgewichen.


Und in noch einem Punkt wird hier mit bisherigen Grundsätzen gebrochen: Das deutsche
Gesundheitssystem sieht nicht vor, dass Zwang zur Gesundheit ausgeübt wird. Niemand kann
gegen seinen Willen zu Untersuchungen und Behandlungen gezwungen werden. Mit einer
Untersuchungspflicht für 2-Jährige wird diese Freiheit für die Eltern eingeschränkt. Im Interesse
der Kinder halte ich dieses allerdings auch für eine Möglichkeit, die ausgelotet werden muss. 3

Aus gesundheitspolitischer Sicht stellt sich dann allerdings auch noch die Frage, weshalb die
Untersuchungspflicht auf Zweijährige begrenzt werden soll. Denn fachlich lässt sich durchaus
dafür argumentieren, alle Kinder-Vorsorgeuntersuchungen verbindlich vorzuschreiben. Dadurch
könnten auch bei jüngeren und älteren Kindern Entwicklungsstörungen erkannt oder vermieden
werden. Diese Möglichkeit wird im Antrag ja auch zumindest angesprochen und sollte bei den
weiteren Beratungen zu diesem Gesetzentwurf mit bedacht werden.


Jenseits dieser rechtlichen und systematischen Bedenken sehe ich aber einen wesentlichen
Knackpunkt dieser Initiative. Sie nimmt ausdrücklich seinen Ausgangspunkt in aktuellen Fällen
von Kindesmisshandlung. Es soll ein Instrument entwickelt werden, mit dem die Kinder nicht aus
dem Blickfeld geraten. Dabei geht es nicht nur um Gesundheitspolitik, sondern allgemein um das
Wohl der Kinder. Es geht hier mit anderen Worten nicht nur um Medizin. Vor diesem
Hintergrund stellt sich die Frage, ob ärztliche Gesundheitsuntersuchungen der richtige Weg sind.
Sie können ein Baustein sein, aber wir müssen uns schon mehr Gedanken darüber machen,
welche anderen Interventionsformen vielleicht noch mehr bringen können. Ich denke da
besonders an Dienste, die Familien zu Hause aufsuchen, begleiten und bei Bedarf weitere Hilfen
vermitteln.


Ein Modell, das die gesundheitliche mit der sozialen Perspektive koppelt ist das „Schutzengel“-
Konzept, das in Flensburg erprobt worden ist und im Rahmen des „Kinder- und Jugend-
Aktionsplans Schleswig-Holstein“ landesweit ausgedehnt werden soll. Dabei werden
Schwangere und junge Familien von einer Hebamme begleitet. Diese Hilfen haben den großen
Vorteil, dass das Kind in seinem Lebensumfeld gesehen und über einen längeren Zeitraum
begleitet wird. So lässt sich klarer erkennen, welche Defizite und welcher Förderbedarf bestehen.
Die „Schutzengel“ sind fest in ein gesundheitliches, soziales und pädagogisches Netzwerk
eingebunden. Während Ärzte erst aufwändig das weitere Hilfssystem mobilisieren müssen und
nur bei gesundheitlichen Problemen weiter im Bild bleiben, sind die „Schutzengel“ unabhängig
von der Art der Problemstellung längerfristig und häufiger präsent. Ähnliches gilt für das Projekt
„Wellcome“. 4

Derartige Konzepte haben den Vorteil, dass sie eine niedrigere Schwelle für die Inanspruch-
nahme haben, als ärztliche Dienste. Die Eltern müssen die „Schutzengel“ zwar erst über die
heimische Türschwelle lassen - und das freiwillig –, dafür ist die Akzeptanz der Beratung aber
auch größer und die Vermittlung weiterer Hilfen ist niedrigschwelliger. Der Nachteil dieser Hilfen
besteht allerdings darin, dass sie erst aufgebaut und etabliert werden müssen. Es wird vor allem
einige Zeit dauern, bis sie wirklich von denen in Anspruch genommen wird, die sie am
dringendsten benötigen.

Ein Blick nach Dänemark zeigt aber, dass dies möglich ist. Dort gibt es einen gesonderten Zweig
der Krankenpflege – die so genannte Gesundheitspflege – der gerade diese Aufgabe erfüllt:
Kinder und Familien in den ersten Lebensjahren zu begleiten, anzuleiten und bei Bedarf
Förderung und Hilfe zu vermitteln. Dieses Modell ist mittlerweile so etabliert, dass man dort eine
sehr hohe Inanspruchnahme verzeichnet. Der Besuch der Gesundheitspflegerin gehört zum
Alltag für alle Schichten, obwohl kein Zwang besteht. Ich ziehe so ein System vor, weil die
Veränderungsbereitschaft der Eltern in einem solchen Zusammenhang wesentlich stärker
gefördert wird. Letztendlich kommen wir nicht umhin, dass der Staat nicht durch eine
Vorsorgeuntersuchung oder herkömmliche Jugendhilfe die Defizite des Elternhauses ausgleichen
kann. Es muss zuerst darum gehen, die Familien in die Lage zu versetzen, selbst klarzukommen
und Hilfsbedarf von außen frühzeitig zu erkennen. Eben dieser Ansatz der Förderung und des
„Empowerment“ liegt ja auch den „Schutzengeln“ zugrunde.

Letztlich ist es auch eine Kostenfrage, ob es wirklich notwendig ist, die Arbeitskraft von
Medizinern für Aufgaben einzusetzen, die in weitem Umfang auch andere Berufsgruppen leisten
können. Gerade dadurch würde man auch die ganzheitlichere Sichtweise fördern, die von den
Grünen im Antrag gefordert wird, ohne dass die Qualität leidet.


Ich denke, wir sollten im Ausschuss noch genau darüber nachdenken, wie die gemeinsamen Ziele
am besten angestrebt werden. Wir sind in den Zielen einig, aber die Preußen sollten nicht zu
schnell schießen. Die nachhaltigere Lösung für die sozialen Probleme ist hier nicht eine
preußisch-obrigkeitsstaatliche Kontrolle zu einem Zeitpunkt im Leben der Kinder, sondern die
Investition in einen dauerhaften, besseren und vertrauensvolleren Kontakt zu den Eltern.

Download PDF

Pressefilter

Zurücksetzen