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Ulrike Rodust zu TOP 42: Familienpolitik weiterentwickeln und teilweise neu gestalten
Sozialdemokratischer Informationsbrief Kiel, 29.06.2006 Landtag Es gilt das gesprochene Wort! Sperrfrist: Redebeginn aktuellTOP 42 – Familienpolitik hat in Schleswig-Holstein hohe Priorität (Drucksache 16/771)Ulrike Rodust:Familienpolitik weiterentwickeln und teilweise neu gestaltenFamilienpolitik muss daher in erster Linie darauf abzielen, die ungleichen Chancen von Kin- dern auszugleichen und Familien dabei zu helfen, das zu leisten, was ihre Kinder mit Recht von ihnen erwarten können, führt Ulrike Rodust aus. Sie verneint, dass in Deutschland fi- nanziell zu wenig für die Familien geschehe, vielmehr würden die Mittel nicht effizient genug eingesetzt. Wichtig sei, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie durch intelligente Lösungen zu ermöglichen. Dazu müsse aber auch die private Wirtschaft ihren Teil beitragen.Die Rede im Wortlaut: Ich danke der Landesregierung für den vorliegenden Bericht und erweitere meinen Dank auch auf alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die hierzu beigetragen haben.Unsere Volkswirtschaft ist auf große Bevölkerungszahlen angewiesen. Alle heutigen Pla- nungen, ob für Autobahnen, Universitäten oder Flughäfen, rechnen kontinuierlich mit 80 Mil- lionen Deutschen. Investitionen in Milliardenhöhe machen nur dann Sinn, wenn es gelingt die Bevölkerungsschrumpfung aufzuhalten.Die deutsche Mutter - lassen Sie mich das so pathetisch sagen - bekam Mitte der 70er Jah- re noch 2,4 Kinder, heute sind es statistisch gesehen 1,23 Kinder. Das ist nicht nur für das Schleswig- HolsteinHerausgeber: SPD-Landtagsfraktion Verantwortlich: Petra Bräutigam Landeshaus Postfach 7121, 24171 Kiel Tel: 0431/ 988-1305/1307 Fax: 0431/ 988-1308 E-Mail: Internet: pressestelle@spd.ltsh.de www.spd.ltsh.de SPD -2-Rentensystem fatal, sondern für jede politische Planung. 100 Erwachsene haben heute noch 65 Kinder und 42 Enkelkinder. Jeder Dritte wird schon in der nächsten und jeder Zwei- te in der übernächsten Generation keine Nachkommen mehr haben, hat der Berliner Sozial- forscher Meinhard Miegel ausgerechnet. Für viele schrumpft damit der Begriff Zukunft auf die eigene Lebensspanne.Das hat, ich wiederhole es noch einmal, Auswirkungen auf alle Bereiche der Politik und bringt Werteveränderungen mit sich: Warum ein Haus bauen, ein Unternehmen gründen, die Umwelt schützen – wenn danach keiner mehr kommt?Familie verändert sich, die traditionelle Kleinfamilie weicht immer häufiger neuen Formen des Zusammenlebens. Deshalb sage ich: Familie ist überall dort, wo Generationen Ver- antwortung füreinander übernehmen. Schauen wir uns die unterschiedlichen Formen des Zusammenleben einmal genauer an, so erleben wir Single-Mütter, die mit einem neuen Freund zusammenleben, binationale Paare, die ihre Kinder in zwei Kulturen erziehen, die Enkel, die von den Großeltern erzogen werden oder Mama und Papa, die in unterschiedli- chen Städten leben.Die Scheidungsziffern steigen seit 1960 stetig an. Seit 1978 hat sich die Wahrscheinlich- keit verfünffacht, dass eine Ehe geschieden wird. Aus jeder zweiten Ehe sind Kinder betrof- fen. In Zahlen ausgedrückt sind dies ca. 150.000 junge Menschen jährlich. Trotzdem ermit- telte Emnid, dass für junge Deutsche im Alter zwischen 15 und 25 „Familie“auf Platz 1 ihrer Wünsche steht. Auf die Frage, an wen wenden Sie sich, wenn Sie Probleme haben, kam die Antwort: „An die Eltern“ und auf die Frage , was nehmen Sie sich für das nächste Jahr vor?“ ermittelte Forsa 2001 bei 36 % der Befragten:“Mehr Zeit für die Familie“. Hier klaffen Sehn- sucht und Wirklichkeit stark auseinander.Der Wunsch nach Familie ist also ungebrochen, doch die Formen haben sich verändert: Wir reden heute von Stieffamilien, Fortsetzungsfamilien, Mehrgenerationenfamilien, Patch- -3-workfamilien oder Regenbogenfamilien. Wer die Gene mit wem teilt, ist für viele genauso unwichtig wie der gemeinsame Nachname. Dies mag man beklagen, doch es ist Realität. In den Städten ist es deutlicher zu erkennen als im ländlichen Raum. Doch auch hier findet diese Entwicklung statt, nur zeitlich verschoben.Familienpolitik drückt schon als Wort ein Spannungsverhältnis aus. Die Familie ist sozusa- gen die Grundeinheit der Gesellschaft, aber keine staatliche Einrichtung. Das wollen wir auch nicht ändern. Aber gleichzeitig machen wir in vielen Bereichen die Erfahrung, dass die Familie sich nicht nur in ihren Strukturen, sondern auch in ihren Aufgabenwahrnehmungen wandelt - und nicht immer nur zum Guten.Besonders die Lehrerinnen und Lehrer wissen ein Lied davon zu singen, dass die Schule, also eine öffentliche Einrichtung, heute vielfach Aufgaben wahrzunehmen hat, die viele Fa- milien nicht mehr leisten können, manchmal auch nicht mehr leisten wollen. Die Startchan- cen ins Leben sind sehr unterschiedlich, je nachdem, in was für ein familiäres Umfeld ein Kind hineingeboren wird. Das gilt für die materiellen Rahmenbedingungen, das gilt aber auch für die überhaupt nicht schichtenspezifische Fähigkeit oder Unfähigkeit der Eltern, ih- ren Kindern emotionale, geistige und soziale Angebote zu machen.Wenn manchmal behauptet wird, es würde in Deutschland finanziell zu wenig für die Famili- en geschehen, hat das mit den Realitäten nichts zu tun. Die Bundesregierung hat in der Antwort auf eine Kleine Anfrage vom 27.02.2006 dargelegt, dass die öffentlichen Hände (al- so ohne Einrechnung der Familienleistungen der privaten Arbeitgeber) bereits im Jahr 2002 rund 100 Milliarden € für die Förderung von Familien ausgegeben haben, also so unge- fähr 10 Mal unseren kompletten Landeshaushalt. Das entspricht etwa 4,5 % des Bruttoin- landsproduktes. Am Geld kann es also nicht liegen, sondern daran, dass wir es, anders als andere Länder, nicht effizient genug einsetzen. -4-Der Bundesfamilienbericht stellt hier verschiedene Modelle vor, die in Europa umgesetzt werden. Mir scheint dabei ein Befund besonders wichtig: Die Länder, die einen besonders hohen Anteil an berufstätigen Frauen haben, haben höhere Geburtenraten als diejeni- gen, in denen, wie in Südeuropa, noch das alte Modell des allein verdienenden Vaters stark vertreten ist. Wenn sich also hier und da bereits wieder Stimmen regen, die das Allheilmittel für die Massenarbeitslosigkeit in einem Rückzug der Frauen aus der Erwerbstätigkeit sehen, wird dies nicht durch die nackten Zahlen gestützt.Die zweite wichtige Botschaft des Bundesfamilienberichtes ist, dass die gigantischen öffent- lichen Transferleistungen für Familien stärker gebündelt werden müssen. Frankreich hat mit einer Familienkasse gute Erfahrungen gemacht, die die Transferleistungen gebün- delt ausschüttet. Je komplizierter und je zersplitterter Verwaltungsabläufe sind, umso weni- ger werden sie diejenigen erreichen, für die sie eigentlich gedacht sind.Deutschland hat genauso wie andere Länder in den letzten Jahrzehnten einen entscheiden- den Bewusstseinswandel gegenüber dem Konzept Familie durchgemacht. Familie ist nicht mehr nur da wo ein Ehepaar ein oder mehrere Kinder hat. Mit Recht definiert der Be- richt der Landesregierung: „Familie ist überall dort, wo Eltern für Kinder und Kinder für Eltern Verantwortung tragen. Familie beinhaltet auch die Großelterngeneration und die Generatio- nenbeziehungen insgesamt.“Mehr Mehrgenerationenhäuser könnten in relativ kurzer Zeit helfen, die Situation zu ent- schärfen. Wenn mehrere Generationen zusammenleben, erlernen sie nicht nur soziale Kompetenz. Sie sparen auch eine Menge Geld – zum Beispiel bei der Tagesbetreuung. Die älteste Generation kann selbständig im eigenen Haushalt leben. Wenn die Kräfte nachlas- sen, helfen die Jüngeren. Natürlich ist dieses Modell nicht auf alle Menschen übertragbar, aber dort, wo es funktioniert, ist es ein großer Gewinn. Die Bundesregierung hat ein Bun- desmodellprogramm angekündigt und ich begrüße es sehr, dass die Landesregierung diese Initiative unterstützen wird. -5-Familienpolitik muss daher in erster Linie darauf abzielen, diese ungleichen Chancen aus- zugleichen und Familien dabei zu helfen, das zu leisten, was ihre Kinder mit Recht von ih- nen erwarten können.Deshalb freue ich mich über die Aussagen in dem uns vorliegenden Familienbericht der Landesregierung. Hier wird deutlich, dass die Landesregierung bemüht ist, Familienpolitik weiter zu entwickeln und in Teilen neu zu gestalten, sei es durch: • den Aufbau eines bedarfsgerechten und qualitativ hochwertigen Angebots an Bil- dung, Erziehung und Betreuung, • die Sicherung einer familien- und kinderfreundlichen Infrastruktur oder • den Ausbau der Unterstützung für Familien sowie • die Stärkung der Familienkompetenz.Seit vielen Jahren beschäftigen sich Fachleute mit dieser Problematik. Schon 1974 verlang- te SPD-Familienministerin Katharina Focke ein „Umverteilungssystem zu Gunsten der Fami- lie und der Kinder“. 1986 forderte Heiner Geißler die Vereinbarkeit von „Beruf und Familie“. Doch nach wie vor bestehen immer noch große Probleme. Gefragt sind deshalb intelligen- te Lösungen, wie • gute und verlässliche Ganztagsbetreuung und Freizeitangebote für alle Kinder, auch für unter Dreijährige und für Schulkinder bis zum Schulschluss und während der Fe- rien. • Wer Kinder erzieht und Alte pflegt, muss steuerlich entlastet werden – egal, wer mit wem verheiratet oder blutsverwandt ist. • Kostenlose Mediation und Beratung für alle Scheidungsfamilien sind genauso erfor- derlich wie • Stadtplanung und Wohnungsbaupolitik, die die Bedürfnisse neuer Familien berück- sichtigen muss. -6- • Der familienfreundliche Umbau der Arbeitswelt (Betriebskindergarten, flexible Ar- beitszeiten, Telearbeitszeit etc.) sollte von allen Beteiligten mit aller Kraft vorange- trieben werden.Wir können jungen Menschen die Entscheidung für oder gegen Kinder nicht abnehmen. Wir können sie begleiten. Der Bericht der Landesregierung macht deutlich, dass Bund, Land und Gemeinden die Familien nicht allein lassen und dass in zunehmendem Maße die priva- te Seite die Frage der Familienverträglichkeit aufgreift. Wir als Land gehen mit unserer Koa- litionsvereinbarung, eine Familienverträglichkeitsprüfung bei Kabinettsvorlagen einzuführen, mit gutem Beispiel voran.Bundesweit wurden bereits mehr als 300 Lokale Bündnisse für Familie gegründet, davon zehn bei uns in Schleswig-Holstein. Gern würde ich noch auf die Themen „finanzielle Förde- rung von Familien“, „Schuldnerberatung“, „Gesundes- und gewaltfreies Aufwachsen von Kindern“ sowie „Wellcome“ eingehen, doch mir fehlt die Zeit. Fakt ist, es gibt also eine gro- ße Anzahl an Unterstützungsstrukturen für die Familien.Dennoch muss die Diskussion auf allen Ebenen der Politik darüber weiter gehen, ob wir noch geeignete Transfermechanismen haben und an welchen Stellen wir umstellen müssen. Mit Recht konstatiert der Bericht der Landesregierung: „Familienpolitik ist Quer- schnittspolitik“. Weder Wirtschaft noch Bildungswesen können agieren, ohne die Auswir- kungen ihrer Entscheidungen und ihrer Veränderungen auf die Familien auszuloten.Ich hoffe, dass dieser Bericht ebenso wie der der Bundesregierung die Diskussion darüber mit neuen Impulsen versieht, und beantrage, ihn federführend in den Sozialausschuss und mitberatend in den Wirtschafts- und den Bildungsausschuss zu überweisen.