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Lars Harms zu TOP 38 - Frühförderung in Schleswig-Holstein
PresseinformationKiel, den 13.10.2006 Es gilt das gesprochene WortLars HarmsTOP 38 Frühförderung in Schleswig-Holstein Drs. 16/928Bei fast allen Formen der Behinderungen gilt das Gebot der möglichst frühzeitigen Diagnostik.Wissen die Eltern um die Einschränkungen, den Verlauf, aber auch um die Fördermöglichkeiten,führt das zur erheblichen Entspannung im familiären Alltag. Ich denke da nur an die DiagnoseHyperaktivität, die es Eltern ermöglicht, nicht länger den unzureichenden Charakter für diegefühlten Störungen im Familienbetrieb als Auslöser zu sehen, sondern ein medizinischbehandelbares Syndrom.In der besten aller Welten werden Behinderungen und Beeinträchtigungen möglichst frühzeitigerkannt. Fördermöglichkeiten werden in ein einheitliches Konzept eingepasst, das Eltern,Geschwister und nicht zuletzt das betroffene Kind selbst vor unliebsamen Überraschungenschützt. Diese Idealvorstellung der Förderung aus einer Hand, die passgenau auf die Bedürfnissedes Einzelfalles abgestimmt ist, sollte das Ziel der Frühförderung sein. Die Realität sieht allerdingsvöllig anders aus. 2Der Landkreis Nordfriesland hatte im Februar dieses Jahres zu einem Workshop „FrüheFörderung“ ins Kreishaus geladen. Die insgesamt 192 Teilnehmer wurden gebeten, ihre Wünscheund Forderungen in einem Satz schriftlich festzuhalten. Allein schon die große Zahl derTeilnehmer legt die Vermutung nahe, dass das Angebot in Nordfriesland sehr weit verzweigt ist.Nur die wenigsten Teilnehmer beschäftigten sich ausschließlich mit der Frühförderung. FürPhysiotherapeuten oder Erzieherinnen stellt sie zwar einen wichtigen Baustein ihre Arbeit dar, istaber eben nur ein Teil. Die überwiegende Zahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer fordert einebessere Verzahnung der Angebote ein. Die genauen Angebote kann jeder Interessierte imProtokoll nachlesen, das im Internet veröffentlicht wurde. „Abbau von Kompetenzgerangel“,„Einbindung der Eltern“, „Mehr Zeit für Kooperation mit anderen Einrichtungen“, sind nur einigeder Forderungen der nordfriesischen Fachleute. Keineswegs handelt es sich um einen Einzelfall.Ich denke, dass ähnliche Veranstaltungen in anderen Kreisen ähnlich aussehen.Es gibt in keinem Landkreis eine Anlaufstelle - kein Amt für Frühförderung. Stattdessen werdenalle Betroffenen an mindestens drei oder vier Stellen verwiesen. Dort werden die Syndrome derBehinderung institutionengerecht klein gehackt und nach Kostenaspekten ausgerichtet. Das führtgerade bei komplexen Problemfällen zur Verschärfung des Problems.Die Landesregierung führt wider besseres Wissen aus, dass behinderte oder von Behinderungbedrohte Kinder in den Frühförderstellen „alle notwendigen und erforderlichen Hilfen undLeistungen“ erhalten (Bericht, Seite 10 oben). So fallen immer wieder Betroffene durch dasKompetenznetz der unterschiedlichen Kostenträger und Professionen. Die Landesregierung weißum diese Probleme und schreibt im Bericht „Früher wahrnehmen – schneller Handeln – zumWohle unserer Kinder“ ausdrücklich, dass die Frühförderstellen nicht interdisziplinär ausgerichtetsind (Seite 16). Zum anderen haben es Neuerungen oder neue Therapieansätze in diesem Systembesonders schwer, sich durchzusetzen. Ein Beispiel unter vielen sind Deckenliftsysteme, die seiteinigen Jahren auch für Privatleute angeboten werden. Diese Lifter unterstützen Eltern von 3Kindern, die ständig gehoben werden müssen. Deckenlifter schaffen es zwar in denHilfsmittelkatalog, aber trotzdem kaum in die betroffenen Haushalte. Es fehlt die Aufklärung,aber auch die Bereitschaft der Krankenkassen, in Umbauten zu investieren, obwohl sie damiterheblich sparen können.Von einer Bereitstellung aller Hilfen kann also keineswegs die Rede sein. Komplexleistungen, dasräumt die Ministerin selbst ein, stoßen auf „Schwierigkeiten“ (Seite 8). Integrierte Angebote mitder Beteiligung mehrerer Kostenträger werden nicht in gewünschtem Maße erbracht.Doch bereits bei einfachen Maßnahmen gibt es Schwierigkeiten. Die VerbraucherzentraleSchleswig-Holstein weist auf die Folgen der Obergrenzen hin. Ärzte müssen die jeweiligenEinzeldiagnosen jetzt bestimmten Diagnosegruppen zuordnen, für die verbindliche Vorgabenbezüglich der maximalen Anzahl der Heilmittelanwendungen einzuhalten sind. Im Klartext: BeiLogopädie und Ergotherapie werden maximal 10 Behandlungen auf einmal verschrieben. Wenneine bestimmte Obergrenze erreicht ist, muss der Patient in der Regel 12 Wochen pausieren, bevorder Arzt wieder neue Therapien verordnen kann.Die Eltern werden durch dieses Verfahren zu Bittstellern degradiert, die sich überauskomplizierten Antragsverfahren ausgesetzt sehen. Durch die Behinderung des eigenen Kindesbelastet, geben nicht Wenige auf dem langen Weg durch den Zuständigkeitsdschungel auf.Andere kapitulieren schon viel früher. Für Eltern in problematischen Lebenssituationen ist dieBehinderung eines Kindes eine große, zusätzliche Belastung, vor der sie die Augen verschließen;nach dem Motto: was ich nicht sehe, gibt es auch nicht. Termine beim Kinderarzt werdenvergessen und Hinweise von Pädagogen aus dem Kindergarten schlichtweg ignoriert. DieKollegen von der grünen Fraktion haben dankenswerterweise einen Vorschlag auf den Tischgelegt, damit alle Kinder eine möglichst frühzeitige Förderchance haben: die obligatorischeUntersuchung aller Zweijährigen. In Nordfriesland geht Schulärztin Grit Karhan davon aus, dass in 4jedem Jahr etwa 200 Kinder vor der amtsärztlichen Untersuchung zur Einschulung kaum oder garnicht beim Kinderarzt waren. Jedes zweite Kind davon, also jährlich etwa 100 Kinder allein inNordfriesland, haben einen unentdeckten Förderbedarf. Hier wurden Lebenschancen verspielt. Beidiesen Kindern kommt eine Frühförderung gar nicht mehr in Frage. WichtigeEntscheidungsfenster haben sich geschlossen. Ich möchte aber keine Schulddebatte anzetteln,denn oftmals sind die Eltern schlichtweg überfordert.Das Gesagte gilt ausdrücklich auch nur für Familien, deren Kind in der Familie verbleibt. LebenKinder dagegen in einer Einrichtung, werden dort nicht nur alle Hilfen aus einer Hand erbracht,auch die Frage nach der Kostenträgerschaft stellt sich nicht mit jeder neuenFörderungsmaßnahme neu.Wir haben es beim Thema Frühförderung also mit zwei Problemfeldern zu tun: derunzureichenden Vernetzung von Einrichtungen, Kostenträgern und Angeboten sowie derElternferne der Frühförderung. Beide Komplexe streift der Bericht, ohne Abhilfe zu versprechen.Die Frühförderung ist ein gewachsenes System. Dafür spricht überdeutlich die Tatsache, dasweder Krankenkassen noch Kommunen die Höhe der Kosten für die Frühförderung genaubeziffern können (Seite 9).Was tun? Der SSW unterstützt ausdrücklich alle Bemühungen der Landesregierung für dasZustandekommen einer neuen Rahmenvereinbarung. Dass alle Träger sich zusammensetzen undverbindliche Verfahren vereinbaren, begrüßen wir ausdrücklich. Ziel dieser Verhandlungen sollteaber eindeutig die Verbesserung der Situation von Kindern und Eltern sein – und hierbei sollte dasZiel „Alles aus einer Hand“ nicht aus den Augen verloren werden.