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30.11.06 , 10:38 Uhr
SPD

Ulrike Rodust zu TOP 18: Wir brauchen eine bessere Balance von Familienleben und Arbeitswelt

Sozialdemokratischer Informationsbrief

Kiel, 30.11.2006 Landtag Es gilt das gesprochene Wort! Sperrfrist: Redebeginn aktuell
TOP 18 - Große Anfrage „Familienpolitik ist eine Querschnittsaufgabe“ (Drucksache 16/1068)

Ulrike Rodust:

Wir brauchen eine bessere Balance von Familienleben und Arbeitswelt

Familie gehöre zu den wenigen Lebensbereichen, für die Vorbereitung und Qua- lifikation weder als notwendig noch als erforderlich angesehen werde, sagt Ulrike Rodust in ihrem Redebeitrag. Die meisten Angebote der Familienbildung erreich- ten jedoch die Mittelschicht in den Städten. Um wichtigere Zielgruppen anspre- chen zu können, setze man jetzt auf Kindergärten. Dafür seien Investitionen nö- tig. Vor diesem Hintergrund sei zu fragen, ob eine bedarfsunabhängige Leistung wie Kindergeld noch sinnvoll sei. Ein familienfreundliches Land müsse ein ver- lässliches Angebot von Kinder-Betreuungseinrichtungen vorhalten. Es sei not- wendig, dass ein ganzheitliches Familienkonzept entwickelt werde und sich Kommunen, Gewerkschaften, Arbeitgeber, freie Träger und Eltern über familien- politische Aufgaben verständigen. Rodust fordert eine familienfreundliche Unter- nehmenskultur und eine familienfreundliche Tarif- und Arbeitsmarktpolitik.



Die Rede im Wortlaut: Ich danke zunächst der Landesregierung und den Mitarbeiterinnen und Mitarbei- tern für die umfangreiche Beantwortung der Großen Anfrage, die nicht nur die Entwicklungstrends der Familien in unserem Land und die zahlreichen Aktivitä-


Schleswig- Holstein

Herausgeber: SPD-Landtagsfraktion Verantwortlich: Petra Bräutigam Landeshaus Postfach 7121, 24171 Kiel Tel: 0431/ 988-1305/1307 Fax: 0431/ 988-1308 E-Mail: Internet: pressestelle@spd.ltsh.de www.spd.ltsh.de SPD -2-



ten zu ihrer Unterstützung darstellt, sondern auch zukunftsweisende Vorschläge formuliert.
Von einem Ende der „Familie“, wie es viele Pessimisten immer wieder prophe- zeien, kann keine Rede sein. Allerdings ändern sich die Lebensformen. Wir re- den heute von Kernfamilien, Wohngemeinschaften, Lebensgemeinschaften, Ein- elternfamilien, Patchworkfamilien und eingetragenen Lebenspartnerschaften. Gemeinsames Kriterium ist: Familie ist überall da, wo Kinder leben.
Die Handlungsoptionen der Politik stützen sich auf den 7. Familienbericht des Bundes, über den wir hier schon früher gesprochen haben. Er lotet die sozialen und die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die Familiengründung und für das Leben in Familien aus und stellt Vergleiche mit anderen europäischen Län- dern an. Zu den Botschaften dieses Berichtes gehören: - Die Familie als Konzept ist im Wandel und steht in Konkurrenz zu nicht familiären Lebensmodellen. - Noch immer sind Frauen viel stärker als Männer durch die Aufgaben in der Familie belastet. - Immer mehr Ehen enden vor dem Scheidungsrichter; immer mehr Famili- en müssen sich reorganisieren. - Die innerfamiliäre materielle Unterstützung wird durch Senkungen der Realeinkommen und Renten beeinträchtigt – womit wir wieder in der Diskussion um das neue Modewort, das „Prekariat“, sind. - Kommunale und wirtschaftliche Entscheidungen beeinflussen die Er- folgschancen von Familien maßgeblich; das gilt aber auch umgekehrt. - Zeitmanagement ist dabei einer der entscheidenden Faktoren. - Die Lebenslaufmodelle in Deutschland erzeugen eine „Rush Hour“, in der Berufsausbildung, Familiengründung und Berufstätigkeit so zusammenfal- len, dass sie schwer zu bewältigen sind. -3-



In Deutschland ist die Vorstellung, dass Kindererziehung eine Privatangele- genheit ist, immer noch tief verwurzelt. Eltern entwickeln eher ein schlechtes Gewissen, als dass sie Hilfe fordern. Nachbarn, Freunde, selbst Lehrer trauen sich oft nicht, sich einzumischen oder Unterstützung anzubieten. Dabei geht es nicht nur darum, dass Leute da sind, wenn etwas schief geht. Das Allermeiste, was Kinder und Jugendliche lernen, lernen sie weder von ihren Eltern noch von ihren Lehrern. Es gibt ein treffendes afrikanisches Sprichwort: „Es braucht ein Dorf, um ein Kind zu erziehen.“ Ich glaube, dies ist ein wichtiger Gedanke.

Großfamilien, in denen mehr als zwei Generationen unter einem Dach leben, sind auf dem Rückzug. Es ist nicht mehr selbstverständlich, dass Großeltern ihre Kinder bei der Erziehung ihrer Enkel unterstützen. Und das wird sich in Zukunft durch den Trend zur späten Elternschaft dramatisch verschärfen. Wenn zwei Generationen hintereinander erst gegen Ende des 4. Lebensjahrzehntes Eltern werden, führt das dazu, dass die erste Generation nicht mehr wie früher im 5. oder zu Beginn des 6. Jahrzehntes Großeltern wird, sondern gegen Ende des 8. Sie werden ihren Kindern kaum noch helfen können, sondern ganz im Gegenteil bereits Unterstützung und Betreuung von ihren Kindern in Anspruch nehmen. Das wird die mittlere Generation in eine Sandwich-Lage zwischen zwei Ge- nerationen bringen, die gleichzeitig von ihnen abhängig sind, und sie finanziell, mental und organisatorisch überfordern. Hier entsteht Sprengstoff für das Ver- hältnis der Generationen.

Das Zusammenleben mit einem Partner und mit Kindern ist keine Fähigkeit, die von selbst vorhanden ist. Sie muss erlernt werden, aber die Familie gehört zu den wenigen Lebensbereichen, für die Vorbereitung und Qualifikation we- der als notwendig noch als erforderlich angesehen wird. Dies verwundert um so mehr, wenn man bedenkt, dass bereits ca. 40 % aller Ehen scheitern und dass viele Eltern mit der Erziehung ihrer Kinder überfordert sind. -4-



Die meisten Angebote der Familienbildung erreichen jedoch nur „Mütter und Vä- ter aus der Mittelschicht, die in Städten wohnen“. Um auch andere und letztlich wichtigere Zielgruppen ansprechen zu können, setzt man jetzt auf die Kinder- gärten: Hier könnte man erstmals alle Eltern erreichen, und die Eltern von Klein- kindern wären auch noch am ehesten motiviert, ihre Erziehungskompetenzen zu verbessern. Ich halte dies für einen interessanten Weg.
Die Herausforderungen sind groß und verlangen hohe Investitionen. Sie verlan- gen nicht unbedingt die Erhöhung der bisherigen öffentlichen Mittel für die Fami- lienförderung, sie verlangen aber ein Nachdenken darüber, ob wir diese Mittel richtig einsetzen. In Deutschland werden jährlich 111 Milliarden Euro für die Familienförderung ausgegeben. Dabei ist der kostenlose Schulbesuch noch nicht berücksichtigt. So geben wir für
• Kindergeld und Kinderfreibetrag 36,1 Milliarden Euro aus,
• die beitragsfreie Mitversicherung von Kindern in der Kranken- und Pflege- versicherung schlägt mit 13,4 Milliarden Euro zu Buche,
• und die Anrechnung von Erziehungszeiten bei der Rente wird mit 11,4 Mil- liarden Euro veranschlagt,
• für die Kinderbetreuung (zuständig die Kommunen) werden ca. 12 Milliar- den Euro,
• für Kinder- und Jugendhilfe 9 Milliarden Euro ausgegeben, und
• der Steuerzahler zahlt künftig für Elterngeld 4 Milliarden Euro.
Aber: Insgesamt gibt Deutschland im OECD-Vergleich mit 60 Prozent einen ver- gleichsweise hohen Anteil seiner Familienförderung direkt an die Eltern. In Schweden liegt dieser Anteil lediglich bei 30 Prozent. Gerade beim Kindergeld – -5-



einer Gießkannenförderung par excellence – stellt sich doch die Frage, ob eine bedarfsunabhängige Leistung noch Platz in unserem Sozialsystem hat.
Wenn ein Land familienfreundlich sein möchte, muss es ein verlässliches An- gebot von Kinder-Betreuungseinrichtungen (auch solche, die die Schule er- gänzen) sowie verlässliche Grundschulen und offene Ganztagsschulen schaffen und ausbauen. Das war schon in der letzten Legislaturperiode ein Schwerpunkt- thema der Landesregierung, obwohl Defizite fortbestehen: Die Versorgungsquo- te für Kinder unter drei Jahren ist problematisch. Für Kinder von 3 bis 5 Jahren fehlen in vielen Regionen Ganztagsplätze. Da werden wir noch große Anstren- gungen unternehmen müssen, bis wir zufrieden stellende Ergebnisse haben.
Die große Vielfalt an Unterstützungsleistungen der öffentlichen Hände für die Familien ist für die Bürger häufig verwirrend. Bündelung ist bürgerfreundlich und entbürokratisierend. Ich freue mich deshalb, dass die Regierung damit begonnen hat, Familienbüros in ganz Schleswig-Holstein einzurichten. Familienpolitik ist nicht das persönliche Hobby der Familienministerinnen in Bund und Ländern, sondern eine Querschnittsaufgabe der Politik und der gesamten Gesellschaft; das zeigen auch die Antworten auf diese Große Anfrage. Es ist notwendig, dass ein ganzheitliches Familienkonzept entwickelt wird, dass es eine Ver- ständigung über familienpolitische Aufgaben zwischen Kommunen, Gewerk- schaften, Arbeitgebern, freien Trägern und Eltern gibt.

Wir brauchen eine bessere Balance von Familienleben und Arbeitswelt. Dazu gehört eine familienfreundliche Unternehmenskultur sowie eine familien- freundliche Tarif- und Arbeitsmarktpolitik. Das Land kann lediglich beraten und bei der Unterstützung von Projekten mitwirken. Gefragt sind hier mehr die Unternehmer. Familienfreundlichkeit ist Zukunftssicherung. Unternehmen und Verwaltungen müssen mehr dafür tun, dass gut ausgebildete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihre Verpflichtungen in Beruf und Familie besser unter einen Hut bringen können. -6-



Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist schwierig, gerade bei höher qualifi- zierten Tätigkeiten. Unter den deutschen Rahmenbedingungen lassen sich Kar- riereorientierung und Familiengründung nur mit hohen Kosten vereinbaren. Des- halb entscheiden sich immer mehr Akademikerinnen gegen Kinder. Dabei hat ei- ne Studie der Prognos AG nachgewiesen, dass sich familienfreundliche Maß- nahmen von Unternehmen auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten rech- nen und zu Kosteneinsparungen führen.
Konzepte für eine familienbewusste Personalpolitik müssen in erster Linie den Beschäftigten dienen, um deren berufliche und familiäre Verpflichtungen in Ein- klang zu bringen. Der - inzwischen unbestrittene - betriebswirtschaftliche Nutzen für Unternehmen ergibt sich aus der Tatsache, dass hoch qualifizierte Frauen und Männer ohne lange Ausfall- und Einarbeitungszeiten zur Verfügung stehen, dass sie ein höheres Maß an Identifikation mit dem Unternehmen zeigen und damit bestmögliche Arbeitsleistung erbringen können. Außerdem profitieren der Staat und die sozialen Sicherungssysteme dadurch, dass mehr Steuern und So- zialabgaben gezahlt werden, während gleichzeitig weniger Ausgaben für soziale Leistungen getätigt werden müssen. Das Projekt „Chefsache Familie“ ist hier bei- spielhaft.

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