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Lars Harms zu TOP 31 - Gesundheit von Kindern schützen - Gesundheitsvorsorge ganzheitlich und verbindlich organisieren
Presseinformation Kiel, den 22.3.2007 Es gilt das gesprochene WortLars HarmsTOP 31 Gesundheit von Kindern schätzen – Gesundheitsvorsorge ganzheitlich und verbindlich organisieren Drs. 16/1284Kinder können Mumps, Karies oder Halsschmerzen haben. Sie können aber auch einenSchlaganfall erleiden oder Leukämie bekommen. Sie benötigen eine Sehhilfe oder Unterstützungbei einer seelischen Behinderung. Das Aufgabenspektrum ist riesig und anspruchsvoll.Im Gegensatz zu den meisten Erwachsenen ziehen sich nämlich Kinder bei Krankheiten zurück,weil sie nicht einordnen können, was mit ihnen geschieht. Sie können weder ihr Problem exaktumreißen, noch umgehend selbst Maßnahmen einleiten, um ihren Zustand zu verbessern. Kindersind von der Fürsorge ihrer Bezugspersonen abhängig. Das sind Menschen, die durchaus aucheinmal Fehler machen können. Darum besteht schon seit vielen Jahren ein dichtesUntersuchungsnetz durch die Früherkennungsuntersuchungen.Bereits kurz nach der Geburt werden die Neugeborenen gründlich untersucht. In einem eigenenHeft werden die Ergebnisse der weiteren Untersuchungen genau festgehalten. Eine Auswertung 2aller Daten unterbleibt allerdings. Hier wird eine Chance vertan. Dieses Feld ist gänzlichunbeachtet. Trotzdem sollten wir hier am Ball bleiben und auf eine Auswertung derFrüherkennungsuntersuchungen drängen. Das gäbe nämlich den besten Aufschluss über denGesundheitszustand der Kinder.Das ist nicht der einzige Blindfleck des Berichtes: Zur kindlichen Gesundheitsvorsorge gehören inder Regel auch Impfungen. Die Ministerin geht leider auf diesen Komplex nicht ein. DieImpfungen schützen nicht nur die Gesundheit des Impflings, sondern auch andere Kinder. Geradedie Kleinsten, bei denen kein voller Impfschutz besteht, sind am besten dadurch geschützt, dass inihrer Umgebung eine Infektionskrankheit gar nicht erst auftreten kann. Andererseits machen sichviele Eltern Sorgen über mögliche Impfschäden, die auftreten können. Infektionskrankheitenspielen in Westeuropa keine Rolle mehr: darum sind sie weitgehend aus dem Bewusstseinverschwunden. Einige Mediziner warnen aber vor zu großer Impfzurückhaltung, weil damit dieKrankheitserreger wieder Fuß fassen könnten. In den Landkreisen Passau und Rottal-Inn habenwir derzeit eine Masern-Epidemie, die die schlimmsten Befürchtungen vieler Impfbefürworterwahr werden lässt. Ich hätte mir gewünscht, dass der Bericht dieses Thema anspricht – zumal esschon einige solche Epidemien gegeben hat. Stattdessen fehlt das Thema.Wenn wir über gesundheitliche Probleme bei Kindern reden, denken wir meistens anGewaltopfer, deren Wunden, sowohl körperliche als auch seelische, verborgen bleiben, weil dieTäter ausgerechnet die Personen sind, die sie auch versorgen. Eltern, die ihre Kinder schlagen,werden diese nicht beim Kinderarzt vorstellen, aus Angst, dass ihre Taten erkannt werden. Tun siees doch, weil die Verletzungen schwerwiegend sind und nicht mehr vor der Umwelt verborgenwerden können, sind die Täter sehr erfindungsreich, um den Zustand des Kindes zu erklären. Esbedarf schon bösgläubiger oder aber sehr erfahrener Ärzte, um die Wahrheit hinter denGeschichten erkennen zu können. Nicht nur den Fall in Mecklenburg-Vorpommern, bei dem eineMutter ihrer Tochter jahrelang ätzende Flüssigkeiten einflößte, um eine Versicherung zubetrügen, zeigt, wie lange schlimme Verletzungen nicht als Gewalttaten erkannt werden. 3Wir haben es also mit einem mehrstufigen Problem zu tun: zunächst einmal müssen wirgewährleisten, dass kindliche Gewaltopfer von behandelnden Ärzten genau als das erkanntwerden. Danach müssen wir sicherstellen, dass alle Kinder überhaupt einen Zugang zummedizinischen System haben.Dieses mehrschichtige Problem betrifft die gesamte Gesundheitsvorsorge bei Kindern Zur ersten Stufe: der Qualifikation von Ärzten und Pflegekräften. Ich möchte hier ein Beispiel nennen: Erst seit 1971 wissen die Mediziner überhaupt um die Langzeitwirkungen des Schütteln von Babys. Experten vermuten, dass einige Behinderungen auf das Schütteln des Kindes zurückzuführen sind. Wir wissen aus Kanada, dass jedes fünfte Kleinkind, das mit einem Schütteltrauma in ein Krankenhaus eingeliefert wird, seinen Verletzungen erliegt. Wer nur einmal die Nerven verliert und den Oberkörper eines Säuglings schüttelt, gefährdet also massiv die Gesundheit seines Kindes. Bernd Herrmann, einer der führenden Experten für Kindesmisshandlung, geht davon aus, dass es in 90 Prozent der Fälle zu Folgeschäden kommt. Wir können also davon ausgehen, dass manch unklare Behinderung auf das Babyschütteln zurückgeht, aber nie mit ihm in Verbindung gebracht wird. Die behandelten Ärzte müssen qualifiziert sein, um die Diagnose Schütteltrauma überhaupt stellen zu können. Beim Komplex Schütteltrauma geht es also um die fachliche Qualifikation der Ärzte, die in Erst- und Weiterbildung gewährleistet werden muss.Wie sieht es aber mit den Rahmenbedingungen der ärztlichen Arbeit aus? Die Kinderärzte sind dieam schlechtesten verdienende Facharztgruppe überhaupt. Der SSW begrüßt, dass dieseUngerechtigkeit zumindest von einigen Kassen behoben wird. In dem Bericht wird dieLandwirtschaftliche Krankenkasse erwähnt, die eine umfangreiche und gründliche Untersuchungmit dem höchsten Punktwert honoriert. Einen finanziellen Anreiz für eine gründlicheUntersuchung zu setzen, ist prinzipiell nichts ehrenrühriges, sondern funktioniert in der Praxisausgesprochen gut. Bedauerlich nur, dass nicht andere Krankenkassen diesem Vorbild folgen. 4Die ausgesprochen schlechte Bezahlung der Kinderärzte hängt mit der geringen Apparatenutzungder Kinderärzte zusammen. Je mehr sie beraten, desto weniger verdienen sie, weil die Punkteimmer noch den technischen Einsatz überbewerten. Dieser Missstand muss umgehend behobenwerden, auch um die Zahl der Kinderärzte zu erhöhen. Die wenigen, die es gibt, können geradenoch den akuten Bereich abarbeiten. Für langwierige Untersuchungen oder Gespräche mit denEltern muss man in Schleswig-Holstein in der Regel mit mehreren Monaten Wartezeit rechnen. Davergeht sogar manchen engagierten Eltern die Geduld.Die Ärzte müssen qualifiziert sein und in den Stand gesetzt werden, den kindlichen Patienten inseinen lebenweltlichen Zusammenhängen kennen zu lernen. Das ist derzeit nicht ausreichendgewährleistet.Das ist aber nicht das einzige Problem. In der zweiten Stufe geht es um Kinder, die gar nicht zumArzt gebracht werden, mag er nun qualifiziert sein für Kinder-Vorsorge oder nicht. Wir habenbereits in vergangenen Sitzungen über entsprechende Anträge gesprochen, wie auch diesenKindern ein Zugang zu medizinischen Leistungen eröffnet werden kann. Die Position des SSW warimmer eindeutig: wir befürworten ein flächendeckendes System der gesundheitlichen Vorsorgefür alle Kinder. Dabei geht es beileibe nicht nur um die Aufdeckung familiärer Gewalt, sondern umeine gründliche Untersuchung, damit Krankheiten und Behinderungen möglichst frühzeitigerkennt werden können.Auch hier ist ein finanzieller Anreiz denkbar: Wer sein Kind nicht regelmäßig zur Früherkennungbringt, der muss die entsprechende Pflichtuntersuchung selbst bezahlen. Beim Geldbeutelbekommt man die Menschen immer noch am besten.Eine entspannte Untersuchungssituation sieht natürlich anders aus. Darum fordert der SSW eineaufsuchende Betreuung ohne stigmatisierende Wirkung. Das geschieht bereits: Das Schutzengel-Projekt in Flensburg ist bereits oft gelobt worden. Dort werden die Mütter ertüchtigt, aus einerteilweise seit Generationen bestehenden Spirale der Gewalt und Vernachlässigung auszusteigen.Die Hebamme im Schutzengel-Projekt ersetzt für viele Mütter das liebevolle Gespräch mit der 5eigenen Mutter. Erfahrungen mit schreienden Kindern oder bei Durchschlafproblemen werdenohne erhobenen Zeigefinger weitergegeben. Frauen, deren Selbstvertrauen lebenslangausgehöhlt wurde, können nur schwer ihrem eigenen Kind Orientierung geben. DiesesSelbstvertrauen gibt ihnen der Schutzengel.Dieser nachhaltige und niedrigschwellige Einsatz muss auf eine stabile finanzielle Grundlagegestellt werden. Die Flensburger Frauen sind ständig auf der Suche nach Spenden, um ihreunbürokratische Arbeit überhaupt machen zu können. Eine Finanzierung mit 20.000 Euro jährlichbeim derzeitig laufenden landesweiten Modellprojekt ist darum völlig unzureichend. Es istgeradezu peinlich, dass sich das Ministerium die landesweite Ausweitung des Projektes bei dieserunzureichenden Finanzierung an die Brust heftet. Die Selbstausbeutung der Mitarbeiterinnen isteinkalkuliert; ohne die geht es nämlich nicht. Der SSW lehnt das ab und fordert die Finanzierungeiner aufsuchenden Sozialarbeit im ersten Lebensjahr. Dänemark ist diesen Weg gegangen underzielt gute Erfolge.Im Sozialministerium hat zwar auch die Notwendigkeit aufsuchender Sozialarbeit erkannt, zögertaber bei der Finanzierung von Strukturen und vertraut stattdessen auf die Nachhaltigkeit desWortes. Bei wichtigen Themenfeldern stellt die Ministerin die Information über Konferenzen unddem gegenseitigen Austausch der Profis in den Mittelpunkt. Der Grund liegt auf der Hand: es istschlicht und einfach billiger als die dauerhafte Einrichtung einer Personalstelle. So auch beimSchutzengel, siehe Bericht Seite 9, wo es um eine Infobroschüre, Treffen und Konferenzen geht. Esgeht aber beim Schutzengel weniger um ein Informationsdefizit der Klienten, sondern um einBetreuungsdefizit. Und das kann nur durch bezahlte Profis geleistet werden.Wenn die Projektphase des Schutzengels 2009 ausgelaufen ist, könnte man bei der derzeitigenKonstruktion die Arbeit einstellen: Strukturen wurden ja nicht geschaffen. Das, was bei neuenAnsätzen durchaus lobenswert ist; nämlich erst einmal zu schauen, wie eine Maßnahmeüberhaupt wirkt und angenommen wird, ist beim Schutzengel aber überhaupt nicht nötig. Die 6Erfahrungen liegen vor; der SSW fordert darum sofort eine stabile, institutionelle Förderung fürFamilienhebammen.Politik im SSW ist es und so wird es auch in Zukunft sein: Nutzung bestehender Strukturen. Das istallemal besser, als für jede neue Aufgabe eine neue Organisation zu schaffen. Nicht nur derKoordinierungsbedarf zwischen den Einheiten steigt dramatisch, auch die Kontrolle ist nichtimmer gewährleistet. In schleswig-holsteinischen Gemeinden haben wir ein gut funktionierendes,öffentliches Gesundheitswesen. Dort sollten die Kompetenzen für die Früherkennung von Kindernzusammengefasst werden. Das öffentliche Gesundheitswesen ist unabhängig und im bestenSinne neutral. Seine Sichtweise umfasst bereits per Definition nicht nur die medizinischenVerhältnisse, sondern auch das soziale Umfeld. Genau das, was eine nachhaltige Früherkennungbei Kindern ausmacht. Diese Aufgabe erfüllen die Gesundheitsämter bereits. Wenn wir die„Untersuchungen des Kinder- und Jugendärztlichen Dienstes in Schleswig-Holstein“ lesen, dannwird der SSW in seiner Position mehr das bestätigt: dort werden alle Aufgaben genannt, die füreine Gesundheitsförderung bei Kindern wichtig sind. Von der Koordination der Förderung bis hinzur Schuleingangsuntersuchung. Das sollte in allen Gesundheitsämtern so gehandhabt werden.Der SSW schließt sich im übrigens nicht der Meinung an, dass die zeitliche Nähe von U 9 und S 1eine der beiden Untersuchungen überflüssig mache. Viele Kassenarztfunktionäre würden gernedie S1 in ihren Punktekatalog übernehmen. Das lehnt der SSW kategorisch ab: nach wie vor ist dieSchuleingangsuntersuchung eine der wichtigsten Reihenuntersuchen. Sie sollte imAufgabenbereich des öffentlichen Gesundheitswesens bleiben. Die daraus anschließendenFördermaßnahmen, die bei einigen Kindern nötig sind, werden nämlich genau dort koordiniert.Damit kommen wir zur dritten Stufe: was geschieht nach Feststellung eines Förderbedarfes?Schließlich geht es bei Kindern nicht um die statistische Erfassung der Krankheiten undBehinderung, sondern um deren Therapie.Natürlich wird ein Kinderarzt beim Verdacht von Kindesmisshandlungen das Jugendamt inKenntnis setzen. Doch wir sprechen heute nicht nur über die Aufdeckung von Gewalt, sondern 7über allgemeine Gesundheitsvorsorge. Wie arbeiten Kinder- und Fachärzte zusammen? Werkoordiniert die anderen medizinischen Dienstleistungen: vom Physiotherapeut bis zumLogopäden? Wer ist maßgeblich bei Fragen der zu gewährenden Leistungen – egal ob sie ausMitteln der Krankenkassen, der Sozialhilfe oder der Jugendhilfe gezahlt werden. Hier gibt es nochKoordinationsprobleme, die auch ganz konkrete Auswirkungen auf die Gesundheit der Kinder undJugendlichen haben. Ich hätte mir gewünscht, wenn das Ministerium einen Überblick über dieseSituation gegeben hätte.Der Bericht zeigt, dass in Schleswig-Holstein schon ein dichtes Netz zur Stärkung derKindergesundheit geknüpft wurde. Doch die Lücken in der Umsetzung und der Koordinationsollten wir nicht leugnen, sondern anpacken.