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Detlef Matthiessen zur deutschen EU-Ratspräsidentschaft
PRESSEDIENST Fraktion im Landtag Schleswig-Holstein Pressesprecherin Es gilt das gesprochene Wort! Claudia Jacob Landeshaus TOP 26 – Ergebnisse der deutschen EU- Düsternbrooker Weg 70 24105 Kiel Ratspräsidentschaft Durchwahl: 0431/988-1503 Zentrale: 0431/988-1500 Dazu sagt der europapolitische Sprecher Telefax: 0431/988-1501 der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Mobil: 0172/541 83 53 E-Mail: presse@gruene.ltsh.de Detlef Matthiessen: Internet: www.sh.gruene-fraktion.de Nr. 330.07 / 13.07.2007Blamiert, verpasst, ignoriert, blockiertDie Bilanz zur deutschen EU-Ratspräsidentschaft fällt nüchtern aus. „Europa gelingt ge- meinsam“ – so zumindest versprach es das offizielle Programm der deutschen Ratsprä- sidentschaft. Was aber gelang tatsächlich? Lassen Sie uns einmal kritisch überprüfen, was vollmundig versprochen und was gebrochen wurde:Blamabel Die Substanz des Verfassungsvertrages bleibt weitgehend erhalten. Einen Grund zu fei- ern gibt es aber nicht. Denn der EU-Gipfel war massiv von nationalen Egoismen domi- niert. Wesentliche Reformen sind zwar erhalten geblieben und könnten bis Mitte 2009 in Kraft treten: die Grundrechtecharta wird rechtsverbindlich, das Europäische Parlament erhält mehr Rechte, die Säulenstruktur wird aufgehoben, mehr europäische Außenpolitik wird möglich, auch wenn der EU-Außenminister nicht mehr so heißen darf. Die Europäi- sche Union erhält eine einheitliche Rechtspersönlichkeit, mit der sie beispielsweise der Europäischen Menschenrechtscharta beitreten kann. Mit diesem Mandat hat die Regie- rungskonferenz einen klaren Auftrag erhalten, wie die neue vertragliche Grundlage der Europäischen Union ausgearbeitet werden soll. Das Mandat ist jedoch geprägt von ei- nem unwürdigen Gezerre und Geschacher zwischen den Mitgliedstaaten.Verpasst Nur theoretisch ist der Bundesregierung klar, dass die EU dringend als Vorreiterin in der Klimapolitik tätig werden muss. Praktisch fehlte jedoch der politische Wille. So wurde zwar von einer Vorreiterrolle gesprochen, tatsächlich schlich sich die Ratspräsidentin a- ber ins Bremserhäuschen. Statt für die dringend notwendige Verringerung der Treib- hausgasemissionen der EU-Mitgliedstaaten bis 2020 um 30 Prozent zu kämpfen, war schon bei 20 Prozent Schluss.Dies ist kein Fortschritt für den Klimaschutz, weil das meiste schon durch die Emissions- rückgänge bei den neuen Mitgliedstaaten erbracht wird. Ehrgeizigere Ziele werden daran geknüpft, dass der Rest der Welt auch mehr tut. Und wenn es ans Eingemachte ging, ar- beitete die deutsche Ratspräsidentschaft sogar offen gegen den Klimaschutz.1/5 Akzeptable Reduktionsziele im Emissionshandel legte die Ratspräsidentschaft erst nach einer strengen Rüge aus Brüssel vor. Und auch jetzt noch werden die klimaschädlichen Kohlekraftwerke begünstigt. Im Dienste der deutschen Automobilindustrie verhinderte Merkel strengere CO2-Grenzwerte für Autos. Auch die Ziele der EU beim Energiesparen und beim Ausbau der Erneuerbaren Energien sind bei weitem nicht ehrgeizig genug, um den Weg beim Klimaschutz zu weisen.In der Agrarpolitik wurde keines der von der deutschen Ratspräsidentschaft selbst gesteckten Ziele erreicht. Von Bürokratieabbau in der Agrarförderung keine Spur, der Tierschutz kam nicht voran bzw. wurde bei den Masthühnern sogar noch verschlechtert. Und die Weiterentwicklung der Gemeinsamen Agrarpolitik versandete im Nichts.Dringend notwendig ist eine einheitlichere Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Die immer wieder zu hörende Vielstimmigkeit schwächt die EU als außenpolitische Ak- teurin. Die deutsche Ratspräsidentschaft konnte zu diesem Prozess im letzten halben Jahr jedoch nichts beitragen. Keine eigenen politischen Initiativen waren im Libanon im Nachgang der Krise von 2006 möglich. Die EU hat sich nur wenig in die Vermittlung ein- geschaltet. Der Grund war die Uneinigkeit unter den EU-Mitgliedstaaten, die es von der Ratspräsidentschaft zu überbrücken galt.Auch Verhandlungen mit Russland über ein neues Partnerschafts- und Kooperationsab- kommen wurden immer noch nicht aufgenommen. Dabei ist ein neues Abkommen mit Russland in vielen Bereichen überfällig. So ist in Energiefragen eine Einigung auf zentra- le Prinzipien der Zusammenarbeit wie gegenseitige Zugangsgarantie, Mindestgarantien für Energieinvestitionen sowie Transitregeln wichtig. Ebenso hat die deutsche Präsident- schaft keine Fortschritte in Menschenrechtsfragen erreicht. Die Situation der Menschen- rechte in Russland ist immer besorgniserregender.Keine politische Lösung wurde für den künftigen Status des Kosovo gebahnt. Auf dem Treffen der G8 Außenminister war die deutsche Präsidentschaft nicht in der Lage, eine sowohl von der EU und den USA als auch von Russland getragene Lösung herbeizufüh- ren. Die deutsche EU Ratspräsidentschaft konnte beim EU-Russland-Gipfel keine ge- meinsame Position hinsichtlich des Kosovos erreichen.Keine sinnvolle Weiterentwicklung hat die deutsche Ratspräsidentschaft bei der Europäi- schen Nachbarschaftspolitik erreicht. Eine Reform des derzeitigen Systems ist für eine differenzierte Europäische Nachbarschaftspolitik jedoch dringend notwendig. Denn euro- päische Staaten wie Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Moldova und die Uk- raine haben eine grundsätzliche Beitrittsperspektive. Die südlichen und östlichen Mittel- meeranrainer hingegen nicht.Kein Durchbruch für ein entwicklungsverträgliches Wirtschaftspartnerschaftsabkommen zwischen der EU und den AKP-Ländern (Afrika, Karibik, Pazifik) wurde erzielt. Diese Ab- kommen müssen Agrardumping der EU verhindern, die Ernährungssicherung in den AKP-Ländern schützen, dürfen die Steuerbasis in den AKP-Staaten nicht durch radikale Zollsenkungen beschädigen und sollten möglichst nur geringe Anpassungskosten für die AKP-Länder an die neuen Abkommen verursachen.Verpasst hat die deutsche Ratspräsidentschaft die Chance für eine humanitär und men- schenrechtlich ausgewogene Flüchtlingspolitik. Bei der Fixierung der Bundesregierung auf die Abwehr und Rückführung "illegaler MigrantInnen" bleiben die menschenrechtli- chen Verpflichtungen gegenüber Flüchtlingen auf der Strecke. „Zirkuläre Migration" soll das neue Zauberwort im Bereich Arbeitsmarktmigration sein. Dabei soll die Zulassung 2 von Arbeitsmigration nach dem Willen der deutschen Ratspräsidentschaft weitgehend den Nationalstaaten überlassen bleiben. So lässt sich keine intelligente europäische Poli- tik für legale Migration gestalten. Geklärt werden muss auch, wie die Wiederholung der Fehler der Gastarbeiterpolitik verhindert werden soll, die einfach von Rückkehr ausging und sich um Integration nicht kümmerte. Dieser Gastarbeiterlogik müssen wir ein Kon- zept für permanente Migration entgegenstellen.Folgenschwer ist, dass keine Einigung bei den Grundrechten bei Strafverfahren gefun- den wurde. Dabei ging es darum, vier Grundrechte für Beschuldigte im Strafverfahren überall in der EU festzuschreiben: Das Recht auf Information, das Recht auf einen kos- tenlosen Verteidiger, das Recht auf einen Dolmetscher und das Recht, dass Verfahrens- dokumente bei Bedarf übersetzt werden.Viel wurde versprochen, nur ein einziger konkreter Plan gefasst, und der ist auch noch geplatzt. Dies ist die Bilanz der deutschen Ratspräsidentschaft im Bereich Soziales. Der einzige Gesetzesplan zur EU-weiten Regelung von Betriebsrenten ist im Ministerrat ge- scheitert. Betroffen sind Millionen Beschäftigte in Europa, die sich einen Anspruch auf betriebliche Zusatzrenten erarbeitet haben. Statt hier einen Konsens für eine EU-weit einheitliche Regelung zu erarbeiten, verwies die Bundesregierung lediglich auf die kom- mende portugiesische Ratspräsidentschaft.Ebenso scheiterte die deutsche EU-Ratspräsidentschaft in der Steuerpolitik. Keine politi- sche Einigung wurde erreicht beim Thema gemeinsame Bemessungsgrundlage bei den Unternehmenssteuern. Nur so kann der ruinöse Steuerwettbewerb in der EU entschärft werden.Im Themengebiet "demografischer Wandel" und "Familienpolitik" wurde auf Symbolpolitik statt neue Konzepte gesetzt. Von notwendigen Anpassungs- oder Gestaltungsmöglich- keiten ist noch keine Rede. Die vielfach von der deutschen Ratspräsidentschaft ange- priesene europäische Allianz für die Familie ist letztendlich nur eine Öffentlichkeitsplatt- form. Ähnlich verhält es sich bei dem Schwerpunkt "Wirtschaftskraft Alter". Unternehmen werden sich schon ihre neuen Zielgruppen selbst erschließen. Politische Appelle braucht man dazu nicht. Viel wichtiger wäre es, eine neue Kultur der Altersarbeit zu etablieren, damit ältere Menschen tatsächlich bis 67 arbeiten können.Ignoriert Pompös eröffnete der EU-Gleichstellungsgipfel das Europäische Jahr der Chancen- gleichheit für alle. Viel wurde über Vielfalt und Antidiskriminierung gesprochen, konkrete Maßnahmen blieben jedoch aus. Gerade beim Thema Lohngleichheit gibt es Handlungs- bedarf. Die deutsche Ratspräsidentschaft hat sich jedoch nur schwammige und unambi- tionierte Ziele für die Gleichstellung von Frauen und Männern gesetzt. Daher konnte hier auch nichts erreicht werden.Im Verbraucherschutz dagegen hat die deutsche Ratspräsidentschaft von vorneherein nichts gewollt. Dabei wären Impulse für verbesserte Informationsrechte gegenüber Un- ternehmen oder eine Unterstützung der verbraucherpolitischen Strategie der neuen Verbraucherkommissarin dringend nötig gewesen.Keine nachhaltigen Spuren hat die deutsche Ratspräsidentschaft im Gesundheitsbereich hinterlassen. Auch hier gab es große Kongresse zu AIDS, Drogen und Prävention, aber keine bedeutenden politischen Aktivitäten. Verschlagworten lässt sich das Ganze unter "Gesundheitspolitik während der deutschen Präsidentschaft: Viel heiße Luft, wenig Akti- on. Die Bundesregierung leistet ihren Beitrag zum Klimawandel." 3 Völlig verschlafen hat die deutsche EU-Ratspräsidentschaft das Thema Pflegebedürftig- keit in der EU. Wir stehen vor einem immensen und steigenden Bedarf an qualifiziertem Fachpersonal im Bereich der Pflege in den meisten EU-Mitgliedstaaten. Eine gemeinsa- me Initiative wäre hier angebracht gewesen.Im Bildungsbereich versucht die CDU-Bundesbildungsministerin seit Amtsantritt eine Po- litik der bewegungslosen Hand. Dem entsprechend versanken die Initiativen der Rats- präsidentschaft in der Beliebigkeit. Von den vielen großen Ankündigungen zum europäi- schen Qualifikationsrahmen, zum Programm für das Lebenslange Lernen und zum Bo- logna-Prozess blieb nicht viel übrig.Trotz vollmundiger Ankündigungen blieb es im Bereich Integration nur bei einem unver- bindlichen Erfahrungsaustausch. Im „EU-Jahr der Chancengleichheit" wäre auf den Ge- bieten Integration und Antidiskriminierung mehr zu erwarten gewesen als seine feierliche Eröffnung und ein paar Gesprächsrunden, die das Thema ethnische Diskriminierung am Rande streiften.Fehlanzeige beim Thema Menschenrechte: Wie im Programm so fand sich auch wäh- rend der Präsidentschaft das Thema praktisch nicht wieder. Das Handeln der Ratspräsi- dentschaft in Fragen der Menschenrechte war äußerst widersprüchlich und unausgego- ren: So betonte die Bundesregierung beispielsweise immer wieder, wie wichtig ihr die Menschenrechte in Zentralasien sind und wie prominent dieses Thema in der neuen Zentralasienstrategie platziert werden soll. Gleichzeitig kämpfte sie aber vehement für eine Lockerung der Sanktionen gegenüber dem zentralasiatischen Land Usbekistan, ob- wohl sich die Menschenrechtslage dort nicht verbessert hat.Blockiert Blockiert ist auch weiterhin die Schaffung eines fairen Wettbewerbsrahmens für die eu- ropäische Energiewirtschaft mit der Durchsetzung der Trennung von Erzeugung, Trans- port und Verkauf von Energie, also der eigentumsrechtlichen Entflechtung der Strom und Gasnetze. Keine Antwort fand die deutsche Ratspräsidentschaft für das humanitäre Drama, das sich jeden Sommer vor Europas Küsten abspielt. Der deutsche Ratsvorsitz verhinderte gar konkrete Vereinbarungen zur solidarischen Hilfe und Verteilung von Flüchtlingen zwi- schen allen EU-Staaten.Fatal Bitter nötig sind neue Friedensinitiativen im israelisch-palästinensischen Prozess. Au- ßer sechs Quartetterklärungen und Besuchsdiplomatie gab es keine konkreten Ergebnis- se und Initiativen. Die deutsche Ratspräsidentschaft hat weder theoretisch noch prak- tisch die selbst angekündigten neuen Möglichkeiten für eine umfassende Friedenslösung aufgezeigt. Dabei gab es mit der Einheitsregierung in Palästina und dem Mekka- Abkommen zwischen Fatah und Hamas die Chance für diplomatische Spielräume. Doch durch die Aufrechterhaltung des Finanzboykotts und dem Festhalten an den alternativen Finanzierungsstrukturen war ein Scheitern der Vereinbarung abzusehen. Mit der bürgerkriegsähnlichen Situation in Palästina ist die schlechteste aller Optionen einge- treten.Unsensibel stärkte die deutsche Ratspräsidentschaft die Reformgegner in der Türkei: Keine Einladung zu den Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Römischen Verträge und ihr mantrahaftes Angebot einer privilegierten Partnerschaft, trotz der laufenden Beitritts- verhandlungen, und obwohl die Türkei bereits eine privilegierte Partnerschaft mit der EU 4 hat. Mit einer solchen Politik demotivierte die Kanzlerin alle Reformbemühungen der Tür- kei im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung: denn weil sie der Türkei ständig signalisierte, dass sie nicht willkommen ist, wendete sich die Stimmung im Land gegen die EU und bildete einen Nährboden für die derzeitige Krise.Einseitig repressiv verfolgte die Ratspräsidentschaft die europäische Migrationspolitik mit der Verstärkung des Datenaustausches und der Kontrollen durch die europäische Grenzschutzagentur Frontex. Die Migrationspolitik ist unter deutscher Ratspräsident- schaft noch stärker in den sicherheitspolitischen Kontext gerückt: Migration wird vor al- lem als "illegale Migration" thematisiert und in einem Atemzug mit Terrorismus und orga- nisierter Kriminalität genannt.Durch die Neuregelungen beim EURODAC-System, das Fingerabdrücke von Asylbewer- bern sammelt, können auch nationale Sicherheitsbehörden auf die dort gesammelten Daten zugreifen. Dies gilt künftig auch beim Visa-Informations-System (VIS). So werden Asylbewerber und Antragssteller von Visa kriminalisiert.Für Schleswig-Holstein ist die Bilanz nicht weniger ernüchternd: wir hatten uns einiges im Bereich der Meerespolitik versprochen, aber auch hier: Fehlanzeige! Die deutsche EU- Ratspräsidentschaft hat es verpasst, sich beim Gipfeltreffen auf Konkretes zum Meeres- schutz festzulegen. Auch die Bundesregierung enttäuscht mit ihren Forderungen. Dabei ist es höchste Zeit für eine nachhaltige und umfassende europäische Meerespolitik. *** 5