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Dr. Ralf Stegner zu TOP 18: Im Zweifelsfall für die Menschen entscheiden!
Presseinformation der SPD-Landtagsfraktion Kiel, 31.01.2008 Landtag Es gilt das gesprochene Wort! Sperrfrist: Redebeginn aktuellTOP 18, Leukämiefälle in der Elbmarsch müssen aufgeklärt werden (Drucksachen 16/1819neu + 16/1830)Dr. Ralf Stegner:Im Zweifelsfall für die Menschen entscheiden!Seit 1989 sind in der Elbmarsch und in Winsen 21 Kinder an Leukämie erkrankt, vier von ihnen sind gestorben, führt der Vorsitzende der SPD-Landtagsfraktion, Dr. Ralf Stegner, in seiner Rede aus. Die signifikante Häufung von Leukämie bei Kindern in der Nähe von Atomkraftwerken ist von der jüngsten Kinderkrebsstudie noch einmal über- deutlich nachgewiesen worden. Die Studie stellt die Fakten dar, sie macht keine Aus- sagen zur Kausalität. Die können wir noch nicht beweisen, aber offensichtlich ist Strah- lung die Hauptursache; die konkrete Strahlungsquelle ist allerdings noch nicht wissen- schaftlich zweifelsfrei nachgewiesen. Stegner plädiert auch angesichts einer neuen Datenlage und verbesserter Untersuchungstechnik für erneute Bodenbeprobungen und medizinische Erforschung der Ursachen. Erkenntnisse, Fragen und Wünsche der Betroffenen vor Ort sollen einbezogen werden. Das Elbmarschgebiet sollte Modellre- gion werden, weil hier ein Cluster offengelegt wurde. Stegner weist darauf hin, es kön- ne nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der normale AKW-Betrieb auch fatale Folgen haben kann. Deshalb dürfe der Atomkonsens nicht aufgekündigt werden und es gelte, im Zweifelsfall für die Menschen zu entscheiden.Die Rede im Wortlaut:Herausgeber: Landeshaus SPD-Landtagsfraktion Postfach 7121, 24171 Kiel Verantwortlich: Tel: 0431/ 988-1305/1307 E-Mail: pressestelle@spd.ltsh.de Petra Bräutigam Fax: 0431/ 988-1308 Internet: www.spd.ltsh.de -2-Wer einen Blick auf die Homepage der Bürgerinitiative „Leukämie in der Elbmarsch“ wirft, dem wird es schwerfallen, sich diesem Thema und diesem Problem zu entzie- hen. Dort kann man etwas über die betroffenen Kinder und Jugendlichen erfahren, dort bekommen abstrakte Zahlen und Fakten einen Namen und eine Geschichte.Christoph, Nils, Sönke und viele andere Namen - sie alle sind an Leukämie erkrankt. Es sind erschütternde Schicksale, und es sind doch keine Einzelschicksale. Zu auf- fällig, zu deutlich ist die Häufung. Seit 1989 sind in der Elbmarsch und in Winsen 21 Kinder an Leukämie erkrankt. Vier von ihnen sind gestorben. „Ein Kind, das stirbt, wird zum Mittelpunkt der Welt. Die Sterne und Gefilde sterben mit ihm“, so hat es ein ame- rikanischer Schriftsteller einmal formuliert. Das mögen manche von Ihnen für eine Par- lamentsdebatte zu emotional finden, aber ohne Emotionalität geht es bei diesem The- ma nicht. Und es sind nicht nur Eltern, die das so empfinden, aber sie sind es im be- sonderen Maße.Als ich noch im Sozialministerium als Pressesprecher gearbeitet habe, wurde ich ein- mal gefragt, ob ich mit meinen Kindern in die Elbmarsch in die Nähe eines Atomkraft- werkes ziehen würde. Ich habe das vor 15 Jahren verneint - was mir zumindest ein Stirnrunzeln des damaligen Staatssekretärs einbrachte. Meine Antwort war aber ehr- lich, wenn auch vielleicht für einen Behördenvertreter schwierig. Aber: Ich halte Ehr- lichkeit für unabdingbar, wenn wir uns mit diesem Thema beschäftigen. Ehrlich zu sagen: „Hier gibt es ein Problem“, ehrlich zu sagen: „Wir machen uns Sorgen“, ehrlich zu sagen: „Wir haben noch keine Antwort“ und dann konsequent zu sein und zu sa- gen: Wir müssen weiter an den Antworten arbeiten. Darauf haben die Menschen einen Anspruch und für die bisherigen Antworten und wissenschaftlichen Theorien gilt, was Voltaire einmal so beschrieben hat, dass es klug und weise sei, an allem zu zweifeln.Lassen Sie mich das etwas ausführen. Eines ist unbestreitbar, nämlich dass es eine signifikante Häufung von Leukämie bei Kindern in der Nähe von Atomkraftwer- -3-ken gibt. Dies hat die jüngste Kinderkrebsstudie noch einmal überdeutlich nachgewie- sen. Je näher der Wohnort an einem AKW liegt, desto höher ist das Risiko für Kinder unter fünf Jahren an Krebs (hauptsächlich Leukämie) zu erkranken. Im 5-km-Umkreis erkrankten 77 Kinder an Krebs, davon 37 an Leukämie. Statistisch wären „nur“ – nur in ausdrücklichen Anführungszeichen - 48 Fälle, davon 17 Leukämiefälle zu erwarten gewesen. Das heißt, es gibt 29 bzw. 20 Erkrankungen mehr. In Großbritannien, USA und Frankreich ist man zu ähnlichen Ergebnissen gekommen.Es gibt eine generelle Häufung in der Nähe von Atomkraftwerken und noch einmal be- sonders um Brokdorf und um Krümmel herum. Diese Ergebnisse sind – obwohl in ab- soluten Zahlen vielleicht gering, statistisch mehr als auffällig und jedenfalls besorgnis- erregend.Es ist kaum begreifbar, wie die Mainzer Strahlenexpertin Professor Maria Blettner in der Bewertung der Ergebnisse die Kausalität zwischen Strahlung von kerntechnischen Anlagen und Leukämie bei Kindern in Abrede stellen kann. Unverständlich ist mir auch die Aussage der Unions-Fraktionsvize Frau Reiche, die monierte, sie habe den Ein- druck, dass diese wissenschaftliche Studie Antipathien gegen Atomkraft schüren solle. Die Studie stellt die Fakten dar, sie macht gar keine Aussagen zur Kausalität. Die können wir nicht beweisen – noch nicht. Aber was besagt das wirklich, wenn der letzte wissenschaftliche Nachweis fehlt? Das Gegenteil zu behaupten, ist doch angesichts dieser Zahlen mehr als fragwürdig. Bei früheren Untersuchungen mit ähnlichen Ergeb- nissen wurde von Wissenschaftlern wie Professor Jung nicht nur ein Zusammenhang mit Atomkraftwerken verneint, sondern geradezu so getan, als sei es gesundheitsför- dernd, dort zu leben. Wie ein Minister aus Schleswig-Holstein vor diesem Hintergrund sagen kann, Atomkraftwerke seien ungefährlich, mag verstehen wer will.Wir sind doch nicht mehr in den 70er Jahren, wo eine strahlende Zukunft noch ohne jede Ironie gewünscht werden konnte. Es gab Tschernobyl und auch Harrisburg, wo -4-doch angeblich kaum etwas passiert ist, mit vielen Krebsfällen in Folge, und es gab eben immer wieder an Leukämie neu erkrankte Kinder in der Nähe von Atomkraftwer- ken.Jeder einzelne Fall ist einer zu viel. Offensichtlich gibt es eine Ursache – und solange wir nicht wissen, warum es diese Häufung gibt, können wir, nein dürfen wir nichts aus- schließen, schon gleich gar nicht, wenn wir wissen, dass Strahlung die Hauptursa- che solcher bösartigen Krankheiten ist, auch wenn wir die konkrete Strahlungsquel- le noch nicht wissenschaftlich zweifelsfrei nachweisen können.Es ist daher gut, richtig und wichtig, dass die zuständigen Ministerien immer wieder Hinweisen und Vorwürfen nachgegangen sind. Es gab und gibt regelmäßige und an- lassbezogene Untersuchungen von Luft, Wasser, Boden, Bewuchs und Milch. Das Sozialministerium hat vieles unternommen, um diese erschreckende Häufung von Leukämiefällen bei Kindern aufzuklären. Dies gilt insbesondere für die laufende Studie zu speziellen Aspekten der Ursachenforschung - bisher leider alles ohne Erfolg. Den- noch können wir die betroffenen Menschen in dieser Region nicht damit abspeisen, dass wir leider nichts tun könnenIch glaube auch, dass wir einen neuen Anlauf machen sollten: Wir haben inzwischen eine fundiertere Datenbasis, wir haben neue wissenschaftliche Erkenntnisse was die generellen Ursachen von Leukämie angeht, wir haben einen neuen Stand der Unter- suchungstechnik - immerhin sind wir eine Dekade weiter. Wir sind das den Kindern und den Eltern schuldig, weiter zu machen.Dazu gehört, uns mit den Ergebnissen des vom Niedersächsischen Landtag einstim- mig beschlossenen Expertengesprächs zu befassen und durch erneute Bodenbe- probungen den unterschiedlichen Untersuchungsergebnissen aus Frankfurt und Minsk weiter nachzugehen. Dazu gehört auch, weiter medizinisch zu forschen: Was -5-sind die Ursachen für Leukämie und wie kann die Behandlung verbessert werden. Hier sollte das Elbmarschgebiet Modellregion werden, denn die KIK-Studie hat hier ein Cluster offengelegt, das weit aus den bereits erhöhten Zahlen rund um Atomkraftwerke hervortritt und das vor allem nicht abgeschlossen ist. Immer wieder treten Neuerkran- kungen auf. Das ist wie ein böser Albtraum für unsere Bevölkerung und besonders die Kinder und Eltern in dieser Region.Ich glaube, dass wir in Schleswig-Holstein schon eine andere Situation und eine andere Vorgeschichte haben. Insoweit ist es mir etwas zu einfach, schlicht den nie- dersächsischen Antrag, den die Grünen abgeschrieben haben, zu beschließen. Wir brauchen eine schleswig-holstein-spezifische Fortführung der Untersuchungen – die natürlich mit Niedersachsen abgestimmt werden muss und die vor allem auch die Er- kenntnisse, Fragen und Wünsche der Betroffenen vor Ort – der Bürgerinitiative - aufgreifen muss. Ich verstehe gar nicht, verehrte Kolleginnen und Kollegen aus der Union, was daran so problematisch sein soll, dass Sie die diesbezüglichen Formulie- rungen mit Weichmachern versehen wollten.Diese Bürgerinitiative betreut die Familien der an Leukämie erkrankten Jugendlichen, die Mitglieder der Initiative haben erhebliche Fachkenntnisse, sie haben aber auch das Recht, dass wir auf ihre Ängste und Befürchtungen eingehen und versuchen, sie ihnen immerhin dort zu nehmen, wo das möglich ist: bei der Frage, wo Proben ge- nommen werden, bei der Frage, was untersucht wird und auch bei der Frage, wer un- tersucht.Hierfür ist es nötig, möglichst Labore zu beauftragen, die voneinander unabhängig sind, die keiner staatlichen Aufsicht unterstehen und die vorzugsweise bisher auch noch nicht beauftragt worden sind. Ich erlaube mir als Laie kein Urteil, ob die Kritik an der Güte der bisherigen Untersuchungen berechtigt ist, ich sage aber, dass wir auf sie eingehen sollten. -6-Ein chinesisches Sprichwort sagte, tiefe Weisheit wächst aus starken Zweifeln. Ich will diese Debatte, bei der es um die Ängste von Menschen geht, wirklich nicht instrumen- talisieren und rede deshalb nur von Zweifeln, aber: Es ist schlimm genug, dass die Atomenergie eine Form der Energiegewinnung ist, bei der ein Versagen von Mensch oder Technik – was beides nicht auszuschließen ist - zu fatalen Folgen führt; und die überdies Jahrtausende zu bewachenden strahlenden Atommüll hinterlässt. Tatsache ist aber auch: Wir können eben nicht mit Sicherheit ausschließen, dass der nor- male Betrieb auch fatale Folgen haben kann. In dieser Situation erleben wir eine Debatte darüber, dass aus einer Mischung aus Profitinteresse großer Konzerne, Technikgläubigkeit und mangelndem politischen Mut der Atomkonsens über die Rest- laufzeiten aufgekündigt werden soll. Und schlimmer noch: Ausgerechnet von Steinburg in Schleswig-Holstein gehen die bundesweit ersten Initiativen aus, sogar neue Atom- kraftwerke zu bauen. Das finde wohl nicht nur ich erschreckend und ich füge gerade für die SPD-Landtagsfraktion hinzu, dass dies niemals Wirklichkeit werden wird, so- lange wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten mit regieren.Es geht hier nicht um abstrakte Rechtsfragen und es gibt einen Punkt, wo wissen- schaftliche Schlussgewissheit oder ökonomische Erwägungen enden müssen, weil die ethische Verantwortung es gebietet, im Zweifelsfall - und darum geht es - für die Men- schen zu entscheiden. All dieses sollte uns dazu veranlassen, sichere und zukunfts- weisende Alternativen zur Atomenergie zu fördern.