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Anne Riecke zu TOP 30 u.a. "Gewaltvorfälle sicher erfassen"
23.05.2025 | BildungAnne Riecke zu TOP 30 u.a. "Gewaltvorfälle sicher erfassen" In ihrer Rede zu TOP 30 + 37 + 38 (Gemeinsame Beratung: a) Neustart in der Bildungspolitik – der Rest der Legislatur im Interesse unserer Schülerinnen und Schüler nutzen, b) Verlässliche Planbarkeit beim Ganztag sicherstellen, c) Gewaltvorfälle sicher erfassen) erklärt die bildungspolitische Sprecherin der FDP-Landtagsfraktion, Anne Riecke:„Zunächst möchte ich der SPD für ihren Antrag danken, der sinnvolle Forderungen enthält, die wir teilen können. Die aktuelle bildungspolitische Lage in Schleswig-Holstein erfordert endlich einen echten Neustart – nicht irgendwann, sondern jetzt. Man kann sicherlich über einzelne Punkte diskutieren – aber die grundsätzliche Richtung stimmt: Es braucht mehr Tempo, mehr Klarheit und vor allem mehr Mut, endlich die strukturellen Probleme im Bildungsbereich anzugehen, die sich seit Jahren aufgestaut haben. Lehrkräftemangel, steigender Unterrichtsausfall, zunehmende Schulabbrecherzahlen und wachsende Belastungen durch Gewaltvorfälle sind keine Einzelfälle mehr, sondern Symptome eines Systems, das an vielen Stellen unter Druck steht. Es ist gut, wenn die SPD-Fraktion diese Debatte anschiebt und dabei die Gelegenheit nutzt, den Wechsel an der Spitze des Bildungsministeriums nicht nur als personellen, sondern auch als inhaltlichen Wendepunkt zu verstehen. Die Herausforderungen sind groß genug, um gemeinsam an Lösungen zu arbeiten. Wir wünschen der neuen Bildungsministerin dabei viel Erfolg und bieten uns für eine konstruktive Zusammenarbeit an.Als eine der größten Herausforderungen im Bildungsbereich sehen wir den bundesweiten Anspruch auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder. Aber natürlich ist der Ganztag nicht nur eine Herausforderung, sondern vor allem eine Riesenchance für die Bildungsgerechtigkeit. Es geht darum, jedem Kind die Chance zu geben, seine Fähigkeiten und Talente zu nutzen – unabhängig vom Elternhaus und den dortigen Voraussetzungen. Der Ganztag eröffnet die Möglichkeit, eine Menge dafür zu tun, dass gerade Kinder aus bildungsfernen Haushalten ein noch besseren Zugang zu Bildung und Förderung erhalten.Das setzt aber voraus, dass wir auch entsprechende Bildungsangebote vorhalten. Der Ganztag darf keinesfalls eine Art bessere Verwahrstelle werden, bei dem am Nachmittag einfach die Stühle zur Seite geschoben werden und der Klassenraum zum Betreuungsraum wird. Wir brauchen klare Bildungskonzepte und die Einbindung von Musikschulen, Sportvereinen und Verbänden, wenn wir das volle Potential des Ganztags nutzen wollen. Es geht um echte Bildungsangebote, um pädagogische Konzepte, um qualifiziertes Personal, um Räume, die diesen Namen verdienen. Umso erschreckender ist angesichts dieser großen Chance, wie der Ganztagsausbau in Schleswig- Holstein vorangeht – oder eben nicht vorangeht. Der Ganztagsausbau ist leider ein Paradebeispiel für politische Konzeptionslosigkeit, finanzielle Unverbindlichkeit und gesetzgeberisches Zögern. Statt strategisch zu gestalten, wird in Schleswig-Holstein improvisiert. Man setzt viel zu häufig auf den guten Willen vor Ort und lässt all jene, die tagtäglich Verantwortung übernehmen, mit der großen Aufgabe viel zu oft alleine. Das hat dafür gesorgt, dass in vielen Bereichen eine massive Unsicherheit bei den Beteiligten herrscht. Man gewinnt den Eindruck, als hoffe die Landesregierung darauf, dass sich das alles irgendwie von allein regelt. Doch so funktioniert verantwortungsvolle Politik nicht. Man hätte sich schon vor Jahren auf den Weg machen können, mit einer klaren Vorstellung, wo man hinmöchte und einem Finanzierungskonzept, bei dem frühzeitig klar wird, welche Kosten auf wen und wann zukommen.Was wir aber stattdessen sehen, ist ein Investitionsprogramm, das per Windhundverfahren und Posteinwurf um Null Uhr aufgesetzt wird und das innerhalb kürzester Zeit hoffnungslos überzeichnet ist. Wir sehen, dass die Kommunen händeringend eine verlässliche gesetzliche Regelung verlangen und dabei sogar den Weg zum Verfassungsgericht in Erwägung ziehen. Und dabei geht es ja nicht um pure Streitlust oder das Feilschen um den letzten Euro, sondern um den fast verzweifelten Versuch, endlich eine rechtliche Klarheit über die Ansprüche beim Ganztag vom Land zu erhalten. Denn aus Sicht der Landesregierung würden die örtlichen Träger der Jugendhilfe für den Anspruch mit Blick auf das SGB VIII verantwortlich sein, die kommunalen Landesverbände sehen in der entsprechenden Vorschrift aber lediglich eine Aufgabenübertragung vom Bund an die Länder. Daher wäre eine schulgesetzliche Regelung nötig, die ausreichend klarstellt, dass die Schulträger zur Umsetzung des Anspruchs verpflichtet sind. Denn die Träger der Jugendhilfe sind aus Sicht der Landesregierung zwar Anspruchsverpflichtete, können aber aus dem Investitionsprogramm gar keine Mittel beantragen.Es scheint insgesamt, als hätte das Land schlicht Befürchtungen, dass durch klare Zusagen und Ansprüche am Ende über die Konnexität zu viele finanzielle Ansprüche entstehen, die man entweder nicht stemmen kann oder nicht stemmen möchte. Die Folgen der Unsicherheit, sowohl bei den Investitionsmitteln als auch der rechtlichen Klarstellung, führen dazu, dass bei den Schulen und in den Kommunen in Teilen schlicht die Investitionen unterbleiben, womit der Ganztag weiter ausgebremst wird oder in der Schwebe bleibt, während das Startdatum immer näher rückt. Es wäre an der Zeit, dass die neue Bildungsministerin hier sehr schnell sehr viel mehr Klarheit reinbringt.Kommen wir zu einem Thema, dass ähnlich dramatische Ausmaße annimmt und mindestens genauso dringendes Handeln erfordert: Die Gewalt an unseren Schulen. Denn diese Realität ist besorgniserregend. Der zentrale Ausgangspunkt ist die Datenbank GEMON, ein System zur Erfassung von Gewaltvorfällen an Schulen in Schleswig-Holstein. Dieses Instrument ist grundsätzlich richtig gedacht, aber in seiner Umsetzung so unzureichend, dass es kaum die Wirklichkeit in den Schulen abbildet.Im letzten Schuljahr hat sich die Zahl der erfassten Gewaltvorfälle im Vergleich zum Vorjahr von ca. 600 auf 1200 nahezu verdoppelt. Allein das ist schon eine dramatische Entwicklung. Doch wer jetzt denkt, das sei ein Zeichen für gestiegene Sensibilität und konsequente Erfassung, der irrt. Denn leider ist unser Erkenntnisstand in diesem Bereich dürftig. Denn wir wissen aus den Erfahrungen und aus dem Schulalltag: Diese Zahlen können bei weitem nicht vollständig sein. Sie bilden nicht die Realität ab, sie dokumentieren nur ein sehr begrenztes und strukturell verzerrtes Bild.Ein Beispiel: Laut GEMON wurden im gesamten letzten Schuljahr fünf Vorfälle mit antisemitischem Bezug aus achthundert Schulen gemeldet. Fünf! Das ist eine Zahl, die – mit Verlaub – in keinem Verhältnis zu den Berichten steht, die wir aus Schulen, von Lehrkräften, Eltern und insbesondere auch von jüdischen Organisationen hören. Wenn eine Datenbank solche Werte liefert, dann hat das nichts mit Beruhigung zu tun, sondern mit Verharmlosung durch Untererfassung. Nur etwa jede fünfte Schule hat überhaupt einen Eintrag vorgenommen. Das bedeutet: Vier von fünf Schulen tauchen in der Statistik gar nicht auf. Entweder, weil nichts gemeldet wurde, oder weil nichts gemeldet werden konnte.Denn auch das gehört zur Wahrheit: Die Hürden für eine Erfassung sind schlicht zu hoch. Eintragungen in GEMON sind nur dann verpflichtend, wenn schwerwiegende Maßnahmen ergriffen werden, also etwa ein schriftlicher Verweis, ein Ausschluss vom Unterricht oder die Versetzung in eine andere Klasse. Das bedeutet im Umkehrschluss: All die Gewaltvorfälle, die nicht in eine solche Maßnahme münden – also die große Mehrheit – finden in dieser Statistik gar nicht statt. Körperliche Angriffe, sexuelle Übergriffe, Mobbing, Drohungen, gezielte Ausgrenzung, Beleidigungen – das alles bleibt unterhalb der Erfassungsschwelle. Und damit nicht genug: Eintragungen dürfen ausschließlich von den Schulleitungen vorgenommen werden. Die aber stehen ohnehin unter massivem Zeitdruck, sehen sich einer Vielzahl an Aufgaben gegenüber und können in vielen Fällen gar nicht jede einzelne Eskalation mitbekommen, die sich im Schulalltag abspielt. Das ist keine Kritik an den Schulleitungen – das ist eine Kritik an einem System, das ihnen die Verantwortung aufbürdet, ohne ihnen die Mittel, die Zeit oder das Personal zur Verfügung zu stellen, um dieser Verantwortung gerecht zu werden.Wenn wir Gewalt an Schulen ernst nehmen, dann müssen wir sie erfassen. Und zwar flächendeckend, niedrigschwellig und realitätsnah. Genau das fordern wir: dass jeder Gewaltvorfall dokumentiert werden kann, unabhängig davon, ob er in eine disziplinarische Maßnahme mündet oder nicht. Denn nur dann bekommen wir ein vollständiges Lagebild. Nur dann können wir gezielt Maßnahmen entwickeln. Nur dann können wir den betroffenen Kindern und Jugendlichen, den Lehrkräften und den Schulen wirklich helfen. Und wir fordern auch, dass der Kreis derjenigen, die Eintragungen vornehmen dürfen, erweitert wird. Warum sollte nicht auch eine Lehrkraft, die direkt betroffen ist oder einen Vorfall beobachtet hat, in der Lage sein, diesen einzutragen? Das wäre ein logischer Schritt, der entlastet, der beschleunigt und der die Qualität der Erhebung erhöht. Es ist eine Frage des Vertrauens in die Professionalität der Lehrkräfte und auch eine Frage der Verantwortungsübernahme durch das System.Gleichzeitig müssen wir auch sensibel sein für die Frage, wie mit den erfassten Daten umgegangen wird. Niemand will, dass einzelne Schulen öffentlich an den Pranger gestellt werden, nur weil sie konsequent dokumentieren. Deshalb wollen wir auch die Möglichkeit schaffen, Teile der Daten anonymisiert zu erfassen. Es geht nicht darum, Stigmatisierung zu betreiben, es geht darum, Handlungsmöglichkeiten zu schaffen. Wer nicht weiß, wo das Problem sitzt, der kann es auch nicht lösen.Wir müssen raus aus dem Blindflug. Gewalt an Schulen ist keine Randerscheinung, sie ist ein Spiegelbild gesellschaftlicher Entwicklungen und oft auch ein Ausdruck von Überforderung, mangelnder Struktur und fehlender Unterstützung. Schleswig-Holstein braucht eine Bildungslandschaft, die nicht nur auf Prävention setzt, sondern auch auf Transparenz. Nur dann können wir ernsthaft darüber sprechen, wie Schulsozialarbeit gestärkt werden kann, wie Präventionskonzepte greifen, wie Fortbildungen für Lehrkräfte gestaltet sein müssen und wie wir dem wachsenden Gefühl der Unsicherheit begegnen, das immer mehr den Schulalltag prägt. Wir müssen den Mut haben, hinzuschauen. Nicht um Schuldige zu finden, sondern um Lösungen zu ermöglichen.“ Sperrfrist Redebeginn!Es gilt das gesprochene Wort. Anne Riecke Sprecherin für Bildung, Kultur, Landwirtschaft, Fischerei, Jagd, Verbraucherschutz, Religion, Minderheiten, Umwelt, Klimaschutz Kontakt: Eva Grimminger, v.i.S.d.P. Pressesprecherin Tel.: 0431 988 1488 fdp-pressesprecher@fdp.ltsh.de FDP-Fraktion Schleswig-Holstein, Düsternbrooker Weg 70, 24105 Kiel E-Mail: fdp-pressesprecher@fdp.ltsh.de, Internet: www.fdp-fraktion-sh.de