Lars Harms: Können Menschen, die Unrechtsstaaten dienten, in einer Demokratie zu überzeugten Demokraten werden?
Presseinformation Kiel, den 16. Dezember 2016Es gilt das gesprochene WortLars Harms TOP 53 Geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung nach 1945 Drs. 18/1144 (neu) „Worum es uns eigentlich geht ist, dass wir Verhaltensmuster der Gesamtheit der Mandatsträger besser verstehen wollen“Aus Sicht des SSW kann ich schon vorweg sagen, dass wir froh sind, den Beschluss gefasst zuhaben, unsere politische Vergangenheit aufarbeiten zu wollen. Mit der Vorlage derUntersuchung, die wir alle in Auftrag gegeben haben, ist dieser Prozess aber bei weitemnoch nicht abgeschlossen. Aber die Untersuchung ist auch mehr als nur eine gute Grundlage.Wir haben hier für das Land Schleswig-Holstein zum ersten Mal eine breite Grundlage, die esuns ermöglicht, das Verhalten von Mandatsträgern in der NS-Zeit einzuschätzen oder gar zubewerten. Wobei ich da die Einschränkung machen möchte, dass diese Untersuchung nichtunbedingt dazu diesen soll, sich einzelne Betroffene herauszupicken, um dann deren Lebenund Wirken zu bewerten. Für so etwas muss man sicherlich die jeweilige Einzelperson 2genauer betrachten und wissenschaftlich untersuchen. Worum es uns eigentlich geht ist,dass wir Verhaltensmuster der Gesamtheit der Mandatsträger besser verstehen wollen.Dabei geht es nicht nur um Schuld oder Unschuld, sondern vielmehr darum, zu klären, ob esbeispielsweise tatsächlich möglich ist, dass ein glühender Nationalsozialist in der danndemokratischen Bundesrepublik zu einem überzeugten Demokraten werden kann. Ist alsoLäuterung möglich? Und ist dies nur im Einzelfall möglich oder kann dies auch alsGruppenphänomen gelten? Solche Fragen haben durchaus eine aktuelle Relevanz, wennman betrachtet, dass kaum ein Jahrzehnt vergeht, wo nicht auch Diktaturenzusammenbrechen und trotzdem die Träger dieser Diktaturen im neuen darauf folgendenStaat, staatstragende Funktionen einnehmen. Auch für die aktuelle Situation in Deutschlandhat dies eine Relevanz. Schließlich ist der Zusammenbruch der DDR-Diktatur noch nicht langeher und auch herausragende Repräsentanten aus dieser Diktatur haben teilweise neuePositionen in unserem Staat übernommen.Können also Menschen, die vorher einem Unrechtsstaat gedient haben oder diesenzumindest unterstützt haben, in einer Demokratie zum überzeugten Demokraten werden?Hierauf gibt natürlich auch die Untersuchung keine abschließende Antwort. Sie eröffnet aberdie Möglichkeit, sich diesem Thema zu nähern. Indem die einzelnen Personen bestimmtenTypbeschreibungen zugeordnet werden, werden auch Handlungsgrundlagen undUmwälzungen in der Biografie deutlicher. Man kann erkennen, dass eine Mitgliedschaft ineiner NS-Organisation nicht immer auch eine tiefgründige Überzeugung zur Grundlage hat.Dieses zu erkennen, fällt uns mit der Untersuchung leichter. Und damit werden die reinenZahlen- und Datenreihen natürlich viel aussagekräftiger. Natürlich ist und bleibt es so, dassbesonders viele Nazis nach dem Krieg in Schleswig-Holstein ein neues Leben begannen, das 3zeigen auch Vergleiche mit anderen Bundesländern. Und natürlich waren unter ihnen auchschwerste Verbrecher. Aber es gab eben auch die Opportunisten, Karrieristen oder einfachnur bequeme Mitläufer, die sich später dann doch sehr schnell in das neue demokratischeSystem einfinden konnten.Für einen Menschen, der nicht in dieser Zeit gelebt hat, ist es aber schon erstaunlich, dass esauch möglich war, dass Menschen, die schwere Schuld auf sich geladen hatten, undMenschen, die aktiv gegen die Nazi-Diktatur aufbegehrten, tatsächlich in einem Parlament,in einer Regierung und gar in einer Fraktion zusammen arbeiten konnten. Wie das gehenkonnte, ist da sicherlich mehr eine psychologische Frage oder auch eine sehr persönlicheFrage in Bezug auf die einzelnen Menschen. Aber die Untersuchung zeigt auf, dass dies sogeschehen ist und dass das Unmögliche anscheinend möglich sein kann. Auch hier geht esdann nicht um Schuld und Unschuld. Sondern vielmehr um die Frage, was kann so etwasAussagen in Bezug auf heutige Konfliktlagen. Können FARC-Rebellen in Kolumbien in demjetzigen Friedensprozess tatsächlich, nachdem dort über 200.000 Menschen sterbenmussten, in die Gesellschaft integriert werden. Unsere geschichtliche Erfahrung scheint aufdiese Frage die Antwort „Ja!“ zu geben. Wenn man so will, beinhaltet dies ja auch einengewissen Grad an Hoffnung.Wenn man die vorliegende Untersuchung betrachtet, dann kann man natürlich nicht umhin,auch die damaligen Vertreter der eigenen Partei zu betrachten. Festzustellen ist, dass keinePartei ganz ohne vorbelastete Personen ausgekommen ist – auch der SSW nicht. 12relevante Abgeordneten-Biografien der Geburtsjahrgänge vor 1928 sind ermittelt worden.Von diesen hatten 3 eine NSDAP-Mitgliedschaft und 4 können als Verfolgte des Nazi-Regimes gelten. Also auch meine eigene Partei ist sozusagen ein Spiegelbild der damaligen 4Gesellschaft. Ich sage ganz deutlich, die Eigenwahrnehmung im SSW war bislang eineandere. Und ich würde mir wünschen, wenn auch diese Tatsachen Anlass zur weiterenErforschung geben.Die Uni Flensburg hat uns hier eine hervorragende Arbeit vorgelegt. Und man hat noch nichteinmal alle Quellen vollständig durcharbeiten können. Noch nicht einmal liegen zu allenPersonen aussagekräftige Daten vor, so dass es hier immer noch genügendForschungsmöglichkeiten gibt. Nach unserer Auffassung sollte die Untersuchung erst derAnfang und noch nicht das Ende der Beschäftigung mit der Vergangenheit sein.Hinweis: Diese Rede kann hier ab den folgenden Tag als Video abgerufen werden:http://www.landtag.ltsh.de/aktuell/mediathek/index.html