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16.12.16
10:54 Uhr
B 90/Grüne

Burkhard Peters zur geschichtswissenschaftlichen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit des Landtages

Presseinformation

Es gilt das gesprochene Wort! Landtagsfraktion Schleswig-Holstein TOP 53 –Geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung der personellen und strukturellen Kontinuität nach 1945 Pressesprecherin Claudia Jacob Landeshaus Dazu sagt der innen- und rechtspolitische Sprecher der Düsternbrooker Weg 70 Landtagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, 24105 Kiel
Zentrale: 0431 / 988 – 1500 Burkhard Peters: Durchwahl: 0431 / 988 - 1503 Mobil: 0172 / 541 83 53
presse@gruene.ltsh.de www.sh.gruene-fraktion.de
Nr. 539.16 / 16.12.2016

Differenzierung und Schattierung ist die Hauptüberschrift dieser Studie
Meine Damen und Herren, 100.000 EUR zur Ausstattung des Projekts waren geradezu dürftig angesichts der enorm zeitaufwändigen, umfassenden und hochqualifizierten Recherchearbeit zur Durchführung der Studie.
Sehr geehrter Herr Professor Dr. Danker, Herr Dr. Lehmann-Himmel, Herr Dr. Glienke und alle anderen, die an der Erstellung mitgewirkt haben: Es ist für mich als Mitglied des parlamentarischen Begleitausschusses offenkundig, dass Sie eine weit überobliga- torische Leistung abgeliefert haben.
Wir können uns glücklich schätzen, Ihrem Institut den Auftrag erteilt zu haben. Wir wis- sen, dass es vor allem Ihr wissenschaftlicher Idealismus war, der Sie angetrieben hat. Dafür sind wir Ihnen außerordentlich dankbar.
Die vorliegende Studie sticht im Verhältnis zu bereits existierenden Parlamentsstudien in anderen Bundesländern qualitativ durch ein besonderes Merkmal hervor. Es geht nicht allein um formale Belastungsfaktoren wie etwa die Mitgliedschaft in der NSDAP, SA oder SS. Durch penible Recherchearbeit wird wesentlich tiefer geschürft.
Im Fokus steht die gesamte Bandbreite der persönlichen Aktions- und Reaktionsmuster im Nazi-Regime. Vom aktiven Widerstandskämpfer über die innerlich Emigrierten, vom linientreuen Verwaltungsbeamten bis hin zum Massenmörder in den besetzten Ostge- bieten. Im Vordergrund stehen die realen Rollen, welche die Personen sowohl vor 1933, von 1933 bis 1945 und dann in der jungen Demokratie in SH gespielt haben und wie sie sich in Quellen wiederspiegeln.

Seite 1 von 3 Denn allein eine Mitgliedschaft in der NSDAP sagt noch nicht viel aus über tatsächliche Identifizierung mit den Zielen der Nazis oder gar über eine schuldhafte Verstrickung in NS-Verbrechen. Die Fragen an die Quellen lauten daher: Warst Du damals oppositio- nell, gar mit dem Stempel „gemeinschaftsfremd“ versehen? Oder verhieltest Du Dich angepasst, mit einem ambivalenten Verhältnis zum Regime? Hattest Du eine system- tragende Rolle und warst Du vor allem an Deiner Karriere interessiert? Oder hattest Du sogar eine exponierte Rolle im Regime mit tief verinnerlichter NS-Überzeugung?
Innerhalb dieser 4 Grundorientierungen definiert die Studie insgesamt 22 verfeinerte Typen und versucht, möglichst alle Personen der untersuchten Gruppe einem Typus zuzuordnen, soweit es die Quellenlage seriös zulässt. „Nonkonformist“ oder „Alter Kämpfer“, „politisch Enttäuschter“ oder „höherer Staatsbediensteter“ sind z.B. derart verfeinerte Rollenbeschreibungen.
Dieser neue Methodenansatz erlaubt einen sehr differenzierten Blick. Nicht Schwarz und Weiß – „Gut“ oder „Böse“, sondern Differenzierung und Schattierung ist die Haupt- überschrift dieser Studie. Und darin liegt meines Erachtens ihr ganz besonderer Er- kenntniswert.
Auf Details der umfangreichen Studie kann ich wegen der kurzen Redezeit nicht einge- hen. Ein Hauptbefund ist aber, dass es den „Sonderfall Schleswig-Holstein“ tatsächlich gab. Mehr als 50 Prozent ehemaliger NSDAP-Mitglieder bei den Abgeordneten über Jahre hinweg, das hat es wohl nirgendwo sonst in der Bundesrepublik gegeben.
Noch deutlicher in der Exekutive: 62 bis 77 Prozent ehemalige NSDAP-Mitglieder in den Kabinetten von 1950 bis 1982, bei den Staatssekretären sogar bis zu 85 Prozent.
Auszuschließen ist allerdings, dass die teilweise tief in das Terrorsystem der Nazis ver- strickten Protagonisten in Schleswig-Holstein nach 1950 wieder eine Naziherrschaft er- richten wollten. So war das bekannte Zitat des Innenminister Pagel von der „Renazifi- zierung“ aber auch nicht gemeint gewesen. Er wunderte sich nur darüber, wie ‚selbst- verständlich die Nazis wieder auftreten‘.
Und genau an diesem Punkt drängt sich für mich folgende Frage auf: Wie hat sich die Rückeroberung des politischen Raums nach 1950 durch Menschen, die kurz zuvor noch durch aktives Handeln für den Nationalsozialismus eingetreten waren, ausgewirkt auf die Stimmung hier in diesem Haus und darüber hinaus im ganzen Land? Denn es gab ja auch Abgeordnete, die in der Nazizeit im KZ gesessen hatten und Bescheid wussten über die Funktionen und Karrieren vieler Abgeordnetenkollegen oder Kabi- nettmitglieder in der Zeit bis 1945.
Die in der Studie analysierten Vergangenheitsdebatten im Landtag offenbaren ein be- drückendes Klima von verschwiegener Verstrickung, Vernebelung und Verdrängung. Eine angemessene Bearbeitung der Vergangenheit wurde von der belasteten Mehrheit systematisch verhindert. „Schlussstrich ziehen!“, das war das Gebot der Stunde.
Ich kann mir lebhaft vorstellen, dass dieses verordnete Beschweigen von Schuld für ei- ne verklemmte und miefige geistige Befindlichkeit sorgte, die sich wie Mehltau auf das politische Klima und auf die Stimmung im Lande gelegt haben muss.
Wie viel Groll und Verbitterung hinterließ der Durchmarsch der alten Kräfte bei der Op- position? Was war der moralische Preis für die nur äußerliche Reinwaschung durch das „Gesetz zur Beendigung der Entnazifizierung“ vom 17. März 1950? Wirkte das schlei-
2 chende Gift der Verdrängung wohlmöglich bis in die Barschel-Zeit? Hier ist noch ein weites Feld für Anschlussforschung.
Die vorliegende Studie, vor allem der Schatz der für ihre Erstellung erhobenen Daten, bildet eine hervorragende Grundlage dafür.
Vielen Dank.

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