Lars Harms: Es geht darum, die Mechanismen zu erkennen
Presseinformation Kiel, den 20.11.2013Es gilt das gesprochene WortLars HarmsTOP 18 Geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung der personellen und strukturellen Kontinuität 1945 in Legislative und Exekutive Drs. 18/1144 „Es geht darum, die Mechanismen zu erkennen, wie durch Kumpanei, falsche Rücksichtnahme und Gedankenlosigkeit der Demokratie Schaden zugefügt wurde.“Niedersachsen, Hessen, Bayern, Baden-Württemberg: dort setzen sich die Landtage bereits mitihrer Vergangenheit auseinander oder haben entsprechende Beschlüsse gefasst. Nun wollenwir uns heute einreihen, indem wir fraktionsübergreifend das Startsignal für die Analyse derSituation in Schleswig-Holstein geben.Dass dazu fast zwei Generationen vergehen mussten, hat auch etwas mit der Mentalität desVerdrängens und des Verschweigens zu tun. Jetzt ist der Abstand für eine offene Betrachtungund eine systematische Aufarbeitung gegeben. Das bedeutet nicht, dass das angestrebteVorhaben leicht wird. Die Wiedereinstellung von Nazis in die Landesregierung und ihre Präsensin den Parteien unseres Landes waren ein schwerer Nachkriegsfehler und eine Bürde für unserdemokratisches Gemeinwesen. Wir wissen, dass sich der Landtag schwer getan hat, sich 2diesem Thema zu stellen. Allzu früh sollte das Thema abgehakt werden. Schon 1951verkündigte der damalige Innenminister Paul Pagel den Schlussstrich unter dieEntnazifizierung. Die Nazis galten im Land als überschaubare Gruppe mehr oder wenigerVerrückter denen der nicht-informierte Rest nur hinterher gelaufen war. Damit war das Themaerledigt. In diesem geistigen Klima standen Politik und Kultur in Schleswig-Holstein lange Jahreund Jahrzehnte. Das war wie ein brauner Schatten, der sich übers Land legte. Schleswig-Holstein spielte eine unrühmliche Rolle als Schlupfwinkel für Nazis und für derenRehabilitierung. Wir hatten Landeskabinette, in denen die Mehrheit der Minister Mitglied inder NSDAP war, und einen öffentlichen Dienst, der mehr oder weniger unbeschadet - bis aufwenige Pensionskürzungen - die Entnazifizierung überstanden hat. Wie groß war der Einflussalter Nazis? Wie weit war das neue, demokratische Schleswig-Holstein durch NS-Gedankengutgeprägt? Diese Fragen harren der Antwort.Allerdings geht es nicht darum, wer, wann was gesagt oder eben nicht gesagt hat, sonderndarum, die Mechanismen zu erkennen, wie durch Kumpanei, falsche Rücksichtnahme undGedankenlosigkeit der Demokratie Schaden zugefügt wurde. In den JahrbüchernDemokratische Geschichte sind die entsprechenden Passagen in Auszügen derLandtagsprotokolle nachzulesen. Erst in den achtziger Jahren hat sich der Landtagsystematisch mit diesem Thema beschäftigt; als mehr oder weniger alle ehemaligen Nazi-Parteigänger pensioniert oder gestorben waren.Doch es geht nicht um persönliche oder politische Aufrechnung. Es gibt in dieser Sache keineGewinner und Verlierer. Wir wollen kein Gefälligkeitsgutachten, das einen Bogen um peinlicheBefunde macht. Für den SSW gilt als oberste Maxime die wissenschaftliche Unabhängigkeit.Darum sind im Antrag ausdrücklich nur Fragen angeführt und auf weitere Vorgaben wurdeverzichtet. Natürlich muss die wissenschaftliche Arbeit den wissenschaftlichen Standardsentsprechen und ich wünsche mir einen auch für Laien lesbaren Abschlussbericht, damit ihnmöglichst viele Bürgerinnen und Bürger lesen werden. Die Politik darf aber keinesfalls 3inhaltlich in diese Forschung eingreifen. Aus dem politischen Auftrag ergibt sich nämlich keinepolitische Aufsichtsfunktion. Davor möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich warnen.Was die Aufarbeitung bringen soll, ist die Aufdeckung von Mechanismen. Wie hat derdemokratische Staat den Übergang von einer Diktatur geregelt, wie ist er mit individuellerSchuld umgegangen? Die Antworten auf diese Fragen werden uns auch heute helfen; und zwarnicht nur im Umgang mit der NS-Vergangenheit. Demokratie darf sich nämlich nie sicherwähnen. Die deutsche Demokratie ist ja keine Demokratie, die lediglich Spielregeln vorschreibt.Wer sich also an die Regeln hält, der verhält sich automatisch demokratisch? Wir haben aus derNazizeit gelernt, dass unsere Demokratie nicht ohne politische Werte funktioniert, allen vorandie Würde des Menschen. Wir sind eine wehrhafte Demokratie, die jeden Tag für dieMenschenrechte kämpft und darum miteinander ringt, weil sich die Verhältnisse ebenverändern und nicht stehen bleiben. Das ist streitbar im besten Sinne des Wortes. Parteien, diediese obersten Werte missachten und mit demokratischen Mitteln die Demokratie selbstabschaffen wollen, müssen in Deutschland damit rechnen, verboten zu werden.Doch wie ist es, wenn wir es nicht mit Parteien, sondern mit Einzelnen zu tun haben? Haben estatsächlich Menschen mit NS-Vergangenheit tatsächlich geschafft in der Demokratieanzukommen ? Hat man sich möglicherweise seine ganz persönlichen Fehler eingestehenkönnen? Oder gab es doch weiterhin mehr Wölfe im Schafspelz als uns allen lieb sein konnte?Die Antworten auf diese Fragen können helfen, für die Zukunft Lehren daraus zu ziehen undvielleicht sogar in anderen Ländern zur Problembewältigung beizutragen. Schon allein ausdiesem Grund lohnt es sich, dass wir die Vergangenheit aufarbeiten.