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23.02.22
12:11 Uhr
B 90/Grüne

Eka von Kalben zur Regierungserklärung zu Corona

Presseinformation

Landtagsfraktion Es gilt das gesprochene Wort! Schleswig-Holstein TOP 1 – Regierungserklärung zu Corona Pressesprecherin Claudia Jacob Dazu sagt die Vorsitzende der Landeshaus Landtagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, Düsternbrooker Weg 70 24105 Kiel Eka von Kalben: Zentrale: 0431 / 988 – 1500 Durchwahl: 0431 / 988 - 1503 Mobil: 0172 / 541 83 53
presse@gruene.ltsh.de www.sh-gruene-fraktion.de
Nr. 045.22 / 23.02.2022


„Ich bin optimistisch, weil wir inzwischen genug Erfahrung, Expertise und Werkzeuge haben, um zügig reagieren zu können.“
Sehr geehrte Damen und Herren,
die Regierung spricht von einem Weg in die Normalität. Das macht Hoffnung, Hoffnung für all diejenigen die in den letzten zwei Jahren unter der Pandemie gelitten haben.
Ich denke da vor allem an Kinder,  die lange Zeit keinen oder kaum Kontakt zu Gleichaltrigen hatten.  Die nicht in die Kita durften und Probleme beim Distanzlernen hatten.  Die nicht zum Fußball oder auf den Spielplatz durften.  Kinder, die unter vermehrten Spannungen und Problemen in der Familie litten.  Die im schlimmsten Fall Opfer häuslicher Gewalt wurden.  Kinder, die ihre Großeltern nicht besuchen durften. Kinder, denen das Gefühl ge- geben wurde, gefährlich zu sein.
Ich denke an Jugendliche,  die ihre Peergroup nicht sehen durften.  Die auf teilweise engstem Raum mit ihren Eltern und kleinen Geschwistern einge- sperrt waren.  Die nicht in die Schule durften.  Die ihren Frust nicht beim Sport rauslassen konnten.  Junge Leute, welche die – aus ihrer Sicht – vielleicht beste Zeit ihres Lebens ver- passt haben. Seite 1 von 5 Ich denke an Eltern,  die darunter litten, dass es ihren Kindern schlecht ging.  Die Kinderbetreuung, Distanzlernen und die Arbeit unter einen Hut bringen muss- ten.  Allen voran die Alleinerziehenden.
Ich denke aber natürlich auch an  Arbeitnehmer*innen in unsicheren Jobs.  Menschen, die im Homeoffice depressiv wurden.  Die hohe Überlastung in manchen Berufen.  Das Infektionsrisiko, dem insbesondere Pflegende und Erzieher*innen ausgesetzt waren. Auch in der Jugend- und Behindertenhilfe. Das wird oft vergessen.
Ich denke an  Jugendverbände, denen der Nachwuchs entgleitet,  an Unternehmer*innen,  Kulturschaffende,  die Gastronomie und  den Handel.
Ja, die überwältigende Mehrheit im Land hat unter der Pandemie gelitten. Aber manche eben mehr als andere.
Der Ministerpräsident ist in seiner Rede bereits ausführlich auf die geplanten Schritte eingegangen. Das muss ich jetzt hier nicht alles wiederholen.
Aber die Frage ist, wird ab dem 20. März alles wieder gut? Normal?
Ja, vieles wird jetzt wieder besser. Das Leben wird für viele Menschen wieder fröhlicher, angenehmer und unbeschwerter. Und die Wahrscheinlich ist groß, dass zum Beispiel Wacken-Tickets dieses Jahr endlich genutzt werden können.
Aber es bleiben die Folgen.
 Das sind zum einen finanzielle beziehungsweise wirtschaftliche Probleme.  Das sind aber vor allem auch die psychischen Probleme, die durch die Pandemie ausgelöst oder verstärkt wurden.  Das sind die Belastungen durch Long Covid.  Das ist die Trauer um Verstorbene. Um Menschen, von denen wir wegen der Corona-Maßnahmen womöglich noch nicht einmal persönlich Abschied nehmen konnten.
Die Probleme, die Belastungen, die Trauer – das alles wird nicht mit einem Schlag vorbei sein.
Wir müssen als Gesellschaft und Politik auch nach dem 20. März – wenn viele Menschen ihre Freiheiten genießen – für diese Menschen, die weiterhin unter den Folgen leiden werden, da sein.
An erster Stelle auch für diejenigen, die weiterhin Angst haben, sich mit dem Virus zu infizieren.
2 Und es gibt noch einen anderen Punkt, der mir sehr wichtig ist: Die Regierungserklärung spricht von einem Weg in die Normalität. Dabei geht es aber – da dürfen wir uns nichts vormachen – um die Normalität der Mehrheitsgesellschaft.
Viele Menschen haben es zum Beispiel als Zumutung empfunden, Masken zu tragen. Da konnte das Personal in Krankenhäusern und Ärzt*innenpraxen nur den Kopf schütteln. Was für die Mehrheitsgesellschaft eine Zumutung war, ist für diese Berufsgruppen Nor- malität.
Und ja, viele Menschen haben in der Pandemie darunter gelitten, in ihren Freizeitmög- lichkeiten eingeschränkt zu sein. Oder – wie im Falle der freiwillig Ungeimpften – zum Teil vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen zu sein.
Aber für viele Menschen ist genau das Normalität. Und zwar oft für viele Jahre, Jahr- zehnte oder ihr ganzes Leben.
Das sind zum Beispiel  Menschen mit kleiner Rente,  Langzeitarbeitslose und ihre Kinder,  Obdachlose,  Menschen mit schlechtbezahlten Jobs,  Asylsuchende,  Alleinerziehende, die sich keinen Babysitter leisten können…
…für all diese Menschen sind Essengehen, Shoppen, Theater, Konzerte, Kino, teure Sportangebote, Urlaubsreisen und viele andere Freizeitangebote nicht Normalität, son- dern der Luxus der Mehrheitsgesellschaft.
Diese Menschen sind oft von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen. Genauso üb- rigens wie viele Menschen mit Behinderungen. Lockdown ist für sie die bittere Normalität.
Vielleicht helfen uns unsere eigenen negativen Erfahrungen in der Pandemie ja dabei, in Zukunft empathischer zu sein – in gesellschaftlichen Debatten und am politischen Ver- handlungstisch.
Normalität darf also nicht heißen: wir tun so als hätte es Corona nie gegeben und machen genauso weiter wie davor.
Was haben wir in den letzten zwei Jahre noch gelernt?
Erstens: Unsere Bewertung dessen, was systemrelevant ist, hat sich verändert. Ja, das ist natür- lich die kritische Infrastruktur. Aber eben nicht nur.
Insbesondere für unsere psychische Gesundheit sind auch die sogenannten Freizeitbe- reiche systemrelevant. Oder zum Beispiel die Dorfgasthöfe. Denn überall treffen sich Menschen, tauschen sich aus.
Kunst und Kultur sind kein Nice-to-have. Trinken, Essen, Schlafen – das alles reicht nicht zum Leben. Sie kennen vielleicht das Bilderbuch über Frederick – die Feldmaus, die nicht Nahrung sammelt, sondern Sonnenstrahlen, Farben und Wörter und ihrer Familie so über den Winter hilft. Daran musste ich in dieser Zeit oft denken.
3 Zweitens: Wir haben auch gelernt, wie wichtig die Präsenzpflicht an Schulen ist und das Home- schooling in Deutschland nicht ohne Grund verboten ist. Kinder und Jugendliche brau- chen nicht nur Unterricht, sie brauchen auch Nähe und Präsenz.
Ja, es gibt ein Dilemma zwischen dem Recht auf Schule und Peergroup auf der einen Seite und dem Schutz vor Corona auf der anderen.
Das ist auch der Grund, weshalb wir uns im 1. Lockdown anders und – aus heutiger Sicht – falsch entschieden haben.
Die uns beratenden Expert*innen – aber auch Fachverbände wie die Deutsche Gesell- schaft für Kinder- und Jugendmedizin oder der Berufsverband der Kinder- und Ju- gendärzte – halten die psychosozialen Folgen von Distanzunterricht für schwerwiegender als die gesundheitlichen Folgen einer Infektion.
Gemeinsam mit dem Bund haben wir vieles angestoßen, um die Folgen für die junge Generation abzumildern. Das ist gut.
Aber, der jüngste Expert*innenbericht der Bundesregierung macht sehr deutlich, dass Angebote für Kinder und Jugendliche die vergangene Zeit aufzuarbeiten nicht kurzfristig auslaufen dürfen. Und da geht es eben nicht nur um Lernrückstände.
Drittens: Die Pandemie hat auch gezeigt, wie angewiesen wir auf ein gut funktionierendes Ge- sundheitssystem sind. Auf die Gesundheitsämter. Auf Menschen, die in den sogenannten Care-Berufen, andere Menschen, betreuen, umsorgen und pflegen. Auch hier sollten wir durch die Pandemie endlich dazugelernt haben.
Es gibt einen immensen Fachkräftemangel, insbesondere in der Pflege. Auch schon vor Corona. Die Arbeitsbedingungen und Löhne müssen dringend gerechter werden.
Wir brauchen endlich eine höhere Wertschätzung für die Menschen, die für uns da sind, wenn wir am schwächsten sind: von der Geburtsstation bis zum Hospiz.
Viertens: Die Digitalisierung muss vorangetrieben werden. Denn ohne einen vernünftigen Daten- austausch lassen sich Pandemien der Zukunft nicht gut bekämpfen. Ohne stabiles Netz können Menschen nicht in Videokonferenzen sitzen oder sind genervt.
Und ohne digitale Schule und Schüler*innen schaffen wir keine Bildungsgerechtigkeit.
Der fünfte und letzte Punkt, den ich an dieser Stelle nennen will, ist die Feststellung, dass unsere Wissenschaft in Deutschland wettbewerbsfähig ist. Das hat sie insbesondere bei der schnellen und guten Impfstoff-Entwicklung gezeigt.
Das macht Hoffnung. Nicht nur für die Bewältigung zukünftiger Pandemien, sondern auch für die nötige ökologische Transformation – die Bekämpfung des Klimawandels.
Bei der Bewältigung der Klimakrise gibt es gegenüber der Pandemie einen entscheiden- den Vorteil: Im Gegensatz zu Viren kann Temperatur nicht mutieren. Ihr Anstieg ist sehr genau vorhersehbar.

4 Lassen Sie uns bitte auch hier endlich mit derselben Ernsthaftigkeit auf die Wissenschaft hören, wie beim Thema Corona!
Meine Damen und Herren, ja, für viele Menschen im Land wird das Leben jetzt hoffentlich wieder unbeschwerter und bunter. Ein Ende der Corona-Krise ist vermutlich in Sicht. Dafür spricht sehr viel.
Trotzdem müssen wir aufmerksam bleiben, dürfen nicht übermütig werden. Und deshalb möchte ich auch keine Versprechungen machen. Wir wissen nicht, was im nächsten Herbst oder Winter passiert, denn das Virus wird bleiben.
Aber ich bin sehr optimistisch. Und zwar, weil wir inzwischen genug Erfahrung, Expertise und Werkzeuge haben, um im Falle der Fälle zügig zu reagieren. Die wohl wichtigste Komponente ist hier die Impfung. Das Thema werden wir ja aber am Freitag gesondert debattieren.
Lassen Sie mich noch einmal auf den Herbst schauen. Und darauf, welche Vorbereitun- gen nötig sind. Es klingt vielleicht banal, aber es ist ein Fakt:  Wir brauchen dringend ausreichend Personal für Kita und Schule. Nicht nur im Aufholprogramm, sondern strukturell.  Wir brauchen Resilienz-Bildung in Kitas und Schulen und einen Ausbau psycho- therapeutischer Angebote.  Wir brauchen quasi eine digitale Boosterung der Gesellschaft: Im Bildungsbereich aber auch im Gesundheitswesen.  Und vor allem müssen wir weiterhin unsere Kommunikation nach außen verbes- sern. Denn politische Entscheidungen, die nicht verstanden werden, werden auch nicht akzeptiert. Und für die Akzeptanz ist es auch nicht hilfreich, wenn die Men- schen sich nicht gesehen oder verstanden fühlen und Politik als arrogant empfun- den wird.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns das Beste aus der Corona-Pandemie machen, indem wir die bisherigen Erkenntnisse nutzen. Nicht nur für den weiteren Umgang mit der Pandemie, sondern auch für weitere Krisen unserer Zeit: wie den Klimawandel und die massive soziale Un- gleichheit.
Ich schließe mit dem Dank an die Regierung. Allen voran dem Gesundheitsminister und seinem Verordnungsteam, die in den letzten Jahren wirklich Unglaubliches geleistet ga- ben, um Schleswig-Holstein durch diese Zeit zu steuern.
Hut ab und vielen Dank!
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